Te (für dt. dich)

Erzählung zum Thema Liebeszauber

von  theatralisch

Wenn ich an Sie denke, muss ich auch an die Roma denken. Also die Leute vom Zirkus. Die Zigeuner. Die Roma. Wegen Ihnen traue ich mich nicht auf die Toilette zu gehen. Denn wenn ich zurück komme, sind Sie sicher wieder oder immer noch oder schlimmer, nicht mehr da.

Wie das klingt. Ja, ich weiß. Das klingt sehr ungewöhnlich. Denn wir sind nicht mal Kollegen, sondern Vorgesetzter und Untergeordnete. Sagt man das so? Soll ich sagen, dass ich etwas Seltsames für Sie empfinde? Soll ich Ihnen das sagen? Zwischen Tür und Patient. Irgendwo dazwischen. Irgendwo dazwischen will ich Ihnen sagen, dass ich etwas Seltsames für Sie empfinde.

In vollen 24 Lebensjahren brachten die Menschen mir bei, dass man Wiederholungen nicht vermeiden kann, sondern verwenden soll. Aus diesem Grund wiederhole ich oft, was ich sage.

Ich empfinde etwas Seltsames für Sie. Dabei erinnere ich mich an Ihren Blick. An den Blick, wenn Sie mich entdecken und zunächst freundlich lächeln (freundlich lächeln), erinnere ich mich genau, erinnere ich mich ganz genau: Sie schauen mich an, erkennen mich erst dann, lächeln abrupt und jetzt, jetzt erstarrt Ihr Blick kurz, Sie halten inne, denken nach, drehen sich nicht weg, aber gehen weiter.

Das, Herr OA, ist ungewöhnlich, seltsam, ungewöhnlich und ich kann mich mitnichten daran gewöhnen - demzufolge. Es ist ungewöhnlich. Ich kann mich mitnichten daran gewöhnen. Demzufolge.

Demzufolge: Hören Sie auf damit!

Und nein: Machen Sie weiter.

Ja, schon: Hören Sie auf damit und nein, machen Sie weiter. Sie können das. Ich glaube an Sie.

Wenn Sie schwitzen, schwitze ich gleich doppelt mit. Wenn Ihnen beim Infusion-Legen die Hand ausrutscht, bin eindeutig ich schuld und ich sage: „Schuldig!“ Beinahe verschlucke ich mich dabei, weil es mir unangenehm ist, vor Ihnen zu sprechen. Ich bin es nicht wert, dass Sie mich sprechen hören. Sie sind es wert, nicht vor mir sprechen zu müssen. Sie dürfen, was Sie wollen. Und wenn ich sage: „Schon gut, Sie sind im Recht. Ich würde ganz genauso handeln an Ihrer Stelle.“ Sehen Sie mich an: „Ist es wirklich okay für dich?“

Und ich denke an: „Weltuntergang, Messerattacken, innere Blutungen, Embolien, Sadisten, formlose Gesten...“ Ich denke an: „Sucht.“ Auch denke ich: „Mutter, eine, hol mich von hier fort. Ich bin vierzehn. Vierzehn Jahre alt.“ Und morgen kommt der Mann schon wieder. Er geht dann auch nicht mehr. Steht dort. Und steht da. Er steht einfach da dort und geht nicht fort. Dieser Mann.

Was mache ich, wenn ich etwas tue? Gehe ich Ihnen damit auf den Geist? Sind Sie nicht auch einmal ganz genauso alt gewesen wie Jesus, als er starb? „Dreiunddreißig.“, antworten Sie. „Ich war auch einmal 33.“

„Danke.“, sage ich. „Danke, dass Sie mich nicht verraten. Ich bin der Spion ohne Pokerface. Durch mich dringt die Bestrahlung, die ausgeht von Ihren Blicken.“

„Soll ich dich nicht ansehen?“, murmeln Sie.

„Wundere mich, Sie murmeln.“, murmle ich.

Am Ende stehen wir uns gegenüber. Sie lehnen an einem der Tische. Zwischen Zi. 20 und 21. Genau im Eck. Ich stehe nur da. Schäme mich. Sätze werden immer kürzer. Sogar in Gedanken. Dabei bin ich gar nicht daran gewöhnt, so wenig zu denken. Im Grunde genommen denke ich sehr viel. Denke ganze Welten. An vollen Tagen. Und jetzt. Sätze. Kurz. Kürzer. Ich fort. In Gedanken. Sie hier. Direkt vor mir. Ihre Ausstrahlung ist so: selbstbewusst. Ihr Haar ist so: fast kurz. Ihre Hände sind so: pragmatisch. Ihr Einfühlungsvermögen (Empathie) ist so: durchdringend. Ihr Mund ist so: scharf; geschnitten; geschnitten scharf. Ihr Herz ist etwa so: groß wie ihre Faust.

Das ist die einzige Eigenschaft, übrigens, die wir beide gemeinsam haben: Unser Herz ist etwa so groß wie die entsprechende Faust desjenigen Herzensträgers.

Und doch steht da etwas geschrieben. Und doch steht dort etwas geschrieben: „Entschuldigung.“

Und: „Entschuldigung, dass ich dich verletzen musste im Untersuchungszimmer.“

Ebenso: „Entschuldigung, dass ich jetzt schon wieder so sein muss, so unbedeutend, so klein, so kindlich. Ja, ich weiß, dass ich nicht mal Ihren Namen sagen kann, wenn ich an Ihr Telefon gehe. Wie, frage ich mich, wie schaffen Sie es nur, so selbstbewusst und in gleicher Weise so natürlich zu sein? Ich, oh, ich bewundere Sie. Sie sind, wie ich es mir in den tollsten Träumen vorstelle. Kein Autist. Eine aufrechte Haltung. Ein Gesicht mit Lächeln drauf. Auf den Wangen so viel Röte. Gleichwohl keine Hypertonie (Bluthochdruck).


Dann frage ich Sie nie doch: „Was wollen Sie von mir?“

Und Sie antworten mir nie doch: „Dich.“

Und ich sage: Entschuldigen Sie, dass ich lebe.“
Springe aus dem Fenster.
Höre nicht und nie, was Sie sagen.

Und Sie sagen: „Dich.“


Anmerkung von theatralisch:

Und Erinnerung. Gott, diese Ärzte.

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Kommentare zu diesem Text

JanaFichtenbaum (21)
(23.02.15)
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 theatralisch meinte dazu am 23.02.15:
Auch Eltern?
Nun denn, da spreche ich aus jahrzentelanger Erfahrung.
Der Oberarzt hatte nicht direkt Macht über mich. Ich habe mich ihm nur unterlegen gefühlt und mich gefragt, warum er mir vertraut, was er von mir will, warum er mir jeden Tag zu verstehen gegeben hat, dass ich ihm was bedeute.
Habe ich nie verstanden. Und bei der Visite habe ich deshalb Blut und Wasser geschwitzt, so viel Verantwortung übertragen bekommen zu haben, sogar um Rat gefragt worden zu sein. Das war ein sonders irres Erlebnis.
Ich hatte so eine wahnsinnige Angst davor, ihn zu enttäuschen, keine gute Leistung mehr zu erbringen. Das war mir überaus wichtig. Auch Verlässlichkeit, Vertrauen. Als einmal die Akten zur Visite fehlten, bin ich halb durchgedreht. Ich hab ihn als Arzt wirklich sehr geschätzt, auch wenn er ein schwieriger und sehr anspruchsvoller Mensch war.
(Antwort korrigiert am 23.02.2015)
JanaFichtenbaum (21) antwortete darauf am 23.02.15:
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 theatralisch schrieb daraufhin am 23.02.15:
Exakt. Die Protagonistin (ich) war zu diesem Zeitpunkt 24. Jahr 2012.
Es gibt da sososo...unermesslich viele Exemplare (exemplarisch). Das glaubst du ja gar nicht.
Wann die Identität beginnt (Selbstkonzept, Selbstwert) kann ich dir erläutern, aber ich will hier keine zehn Seiten oder dergleichen füllen.
Nicht mehr in diesem Leben.
Wie gesagt. Das war damals mein Oberarzt und ich hatte einen gehörigen Respekt vor ihm und hab nicht genau verstanden, warum er mich in viele Entscheidungen einbezogen hat, mich anscheinend wirklich zu mögen schien. Er war für mich ein Idol, jemand zu dem ich wirklich aufschauen konnte. Und zu diesem Zeitpunkt befand ich mich noch in der Ausbildung.
Zu meinen Eltern, insbesondere natürlich zu meinem Vater, konnte ich das nie: Aufschauen.

And don't ever forget the Exemplarik, never! Yes.
(Antwort korrigiert am 23.02.2015)
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