Es war an einem Samstag im Mai. Die Vegetation war von Geräuschen erfüllt; unser Vorgarten von Gänseblümchen überzogen. Auf dem Nachbargrundstück sah man ein kleines Kind seine ersten Schritte üben. Ich schaute von unserem Zaungatter aus zu. Die Eltern jubelten. Der Sohnemann schlug sich gut. Wie hatte ich mich damals, vor unvorstellbar langer Zeit, angestellt? War ich weinend liegen geblieben, oder bin ich gleich wieder aufgestanden? Konnte ich den Schmerz abschütteln, oder nahm ich ihn mit auf mein Zimmer? Kein Mensch konnte das mehr sagen. Der Opa sagte sowieso nichts. Vielleicht war es besser so.
Als ich mich gerade umdrehen wollte, um über den gefliesten Weg wieder unser Haus zu erreichen, bemerkte ich eine Bewegung neben mir. Ich drehte mich in die Richtung. Es war ein Mädchen in meinem Alter (?), das soeben mit ihrem Fahrrad in die Nähe unserer Grundstückgrenze gekommen war. Sie trug Kopfhörer und lauschte ungesund lauter Musik. Der Drummer schlug auf sein Ridebecken, als hätte er den Rest seiner Ausrüstung zu Hause vergessen. Ich vermutete, dass sie sich, genauso wie meine Schwester, in einer Phase der aktiven Rebellion befand. ICH hatte für solchen Kram keine Zeit. Tussies waren eben anders.
Als sie mit dem Werbeprospekt in der Hand den Briefkasten erreicht hatte, blickte sie hoch zu mir. Ich blickte zurück. Nein, ich starrte. Als würde das Rennpferd, auf dessen Sieg ich vorher, den letzten Euro zum Einsatz abgegeben hatte, sich nun kurz vor dem Zieleinlauf befinden.
Ja, wie schön sie war. Solche rosigen, sanften Wangen, über die der Wind hier langsam strich, waren der Grund, warum sich Jungen auf dem Schulhof prügelten. Ihre Zähne glänzten wie in einem graphisch optimierten Werbespot. Und ihre dichten Haare flogen leicht in der frischen Frühlingsprise mit. Malkunst in 3D. Meine Hände waren führungslos. Zuckten, als wollten sie die flatternden Haare einfangen, um die Entstellung des Kunstwerks zu verhindern. Mein Blick hingegen war starr und blieb es noch, selbst als sie schon zum nächsten Grundstück aufgebrochen war. Im besten Fall würde sie gedacht haben, dass ich an einer Sehstörung litt (was ja zu meinem Namen passte). Aber da war nichts mehr zu machen.
4 Wochen später hatte ich sie wiedergetroffen. Bei einer Vereinsfeier der Tischtennisabteilung. Sie erkannte mich wieder. Warum auch immer, und fand heraus, dass ich in der Lage war meine Glotzbebbel zu benutzen. Es wurde viel Alkohol ausgeschenkt, und irgendwann, kurz bevor sie ging, hatte ich sie gefragt, ob wir nicht die Nummer tauschen sollten (weil sie so gut Tischtennis spiele, und ich einen würdigen Trainingsgegner suchte). Bereitwillig sagte sie zu. Nach 10facher Verifizierung landete ihre Nummer in dem Rachen meines Handyspeichers (ich hatte hier schon Negativerlebnisse gehabt). Aber auch die meinige in ihrem, wobei sie leichter zufrieden zu stellen war.
Dies war wiederum mehr als 3 Monate her, und ich hatte mich damit abgefunden gehabt, nicht gern, aber gezwungermaßen, dass es nichts mehr werden würde. Wahrscheinlich hatte ich zu oft verifiziert.
Doch hier und jetzt geschah der Clou. Jetzt, in dieser Lage, in die mich ein zorniger Gott gebracht hatte. Mich zu geißeln schien, als hätte ich Mose die Gebotstafel, nachdem er sie vom Berg heruntergeschleppt hatte, aus der Hand gerissen; über meinem Knie zerschmettert, um das Götzenbildnis zu ergänzen, welches auf den letzten Schliff gewartet hatte. Ich fühlte mich aufgefordert, in die Verbannung zu ziehen. Und jetzt (JETZT!) leuchtete ihre Nummer im Handydisplay auf!
Hatte sie sich verwählt; wollte sie eigentlich die Polizei erreichen? War ihr Handy von einem Virus befallen, der eine Selbstwahl auslöste? Hatte Gott mich doch mit einem anderen verwechselt, der seine Heiligtümer massakrierte?
War das alles nur ein Traum? War ich auf den ersten Traum gestoßen?
Verdammt, was war es?!
Vor lauter Nachdenken, hätte ich fast vergessen ranzugehen.