Nebel

Erzählung zum Thema Leben

von  Sekundärstille

Er blickt über das Balkongeländer hinunter zur Stadt, von der er aber, des dichten Nebels wegen, nichts sehen kann.
Es scheint fast so, als begrenze jener Nebel seine Welt auf die wenigen Meter, die es vom Haus bis zu ein paar Bäumen, von denen er nur die Wipfel erahnen kann, sind.
Der achte Stock des Lichtenberger Plattenbaus ist sowieso eine Weltflucht, denn von dort oben erscheint alles klein, nichtig, weit weg. Er hat von hier aus den Überblick, egal was unten passiert, es kommt nur selten etwas davon herauf.
Bis auf den Nebel, an jenem Dienstagmorgen, ein Dienstag im Oktober, ein verregneter Dienstag.
Seit er keine Arbeit mehr hat, sind die sechzig Quadratmeter, fünfter Stock links, eigentlich alles, was übrig geblieben ist, von seiner Existenz.
Sie hatten alles ausgelöscht, was ihn in irgendeiner Weise an die Vergangenheit erinnern konnte, jedes Ideal, für das er gekämpft hatte, jedes Streben war verschwunden, ja sogar: verklärt worden, schlecht gemacht.
Er legt seine Hände auf das kalte Geländer und starrt in die graue, verdichtete Masse, irgendwo kreischen Vögel, sonst ist es still.
Im Blumenkasten hält eine einzige, rot blühende Geranie die Stellung. Er hatte sie bei Aldi gekauft. Einsames Ding, denkt er. Noch blüht sie, bald wird sie welken und dann vertrocknen, bis der Schnee sie überdeckt.
Ob sie im Frühjahr wieder blühen würde, überleben würde, war dem Schicksal überlassen. Schicksal, unberechenbar, wie bei ihm.
Rot war die Rose, die er ihr damals schenkte. Ihr, dem Mädchen.
Wieso er jetzt daran denken muss, weiß er nicht.
Er kaufte die Rose damals in einem kleinen Blumenladen, dessen Scheiben von innen beschlagen waren. Der Geruch nach chemischem Dünger und nasser Erde steigt ihm noch heute in die Nase.
Unbeholfen war er damals, ging hinein und sagte zu der Dame, die mit ihren toupierten, blonden Haaren in Mitten der prächtigen Blüten stand: eine Rose, bitte.
Er konnte zwischen verschiedenen Farben wählen: orange, weiß, rot, ja, sie hatten sogar schwarze Rosen in einem mit Wasser gefüllten Plastikeimer am Boden stehen.
Seines ambivalenten Verhältnisses gegenüber Rot wegen, wählte er diese Farbe.
Rot war das Erste, was er im Leben sah: die roten, stark geschminkten Lippen seiner Mutter über ihm. Das war seine Mutter: die roten Lippen, die Dauerwelle, das süssliche Parfüm, nach dem alle Erinnerungen an seine Kindheit rochen.
Und Rot würde womöglich das letzte sein, was er im Leben sieht, denkt er.
Das rührt von einem Gespräch mit seinem Vater, einem vierschrötigen Bauern, immer im Blaumann und mit Erde unter den Fingernägeln, ganz im Kontrast zu Mutter. Er fragte damals, vor sechzig Jahren, nachdem ein Onkel verstorben war, auf dem Friedhof: „Vater, was ist das eigentlich, der Tod?“
Vater sah auf ihn herunter, er trug einen weiten, ausgebeulten, tausendfach geflickten schwarzen Anzug, in dem er schäbig aussah und sagte: „Junge, für Onkel Theo ist der Tod die Hölle.“ Er fragte: „was ist die Hölle?“ Vater sagte: „glutrotes Feuer.“ So war das.
Der Grund, warum Vater auf Onkel Theo so schlecht zu sprechen war, lag in der Tatsache, dass Theo in der Partei war. Sie hatten alle immer Angst, dass Theo alles weiter erzählte, dass Theo für die Partei schnüffelte und sie aushorchte.
Die rote Rose übergab er ihr, dem Mädchen, damals, auf dem Pausenhof, polytechnische Oberschule, in der Raucherecke, wortlos, aber hoffnungsvoll, jedoch umsonst. Sie sah ihn an, wasserblaue Augen, daran erinnert er sich noch jetzt, an jenem nebligen Oktobermorgen, und dann kicherte sie und es kicherten irgendwann alle die da standen und rauchten und er wandte sich ab und ging.
Wie es wohl gewesen wäre, hätte sie nicht gekichert, sondern ihn irgendwie gemocht und sie wären zusammengekommen. Schicksal.
Vielleicht war die Liebe nie gut zu ihm. Vielleicht hatte sie auch in diesem Moment sein Herz verlassen, er ist sich nicht sicher, ihm war es dann irgendwann auch egal.
Ein paar Jahre später gab es ein anderes Mädchen, Tanzkurs, Abschlussball der EOS und er wehrte sich irgendwie, aber als das Kind da war, musste er nachgeben, der Vernunft wegen.
Die Partei hatte ihn nach dem Studium aufgenommen, ohne Vorbehalte, weil die Ausstrahlung nicht zählte, sondern die Ideologie. Und er fühlte sich wohl da, sein Büro in der Normannenstraße, Haus 15, Abteilung 26, Telefonüberwachung und Abhörmaßnahmen. Irgendwie war es sein Ersatzzuhause, es schrie kein Kind und da gab es auch keine Frau, die unglücklich war, die immer mehr wollte und vor allem: die Freiheit wollte.
Er hätte vielleicht auch Freiheit gewollt, das wusste er jetzt nicht, aber nicht um jeden Preis, denn er war ängstlich, mutlos, ein Mitzieher, damals.
Sie sagte: „Drüben hätten wir es besser, denk doch an Marie, das Kind wächst hier in Angst auf.“
Das gipfelte dann in irgendeinem Winter, sie hatten Marie gerade ins Bett gebracht und saßen im Wohnzimmer.
Er erzählte ihr irgendwas davon, dass das VEB Möbelkombinat, Hellerau, bald neue Wohnzimmergarnituren herausbringen würde und da konnten sie wohl als eine der ersten bestellen, der Partei wegen.
Sie hörte ihm nicht wirklich zu, jetzt, als er darüber nachdenkt, wird ihm klar, dass sie ihm wohl immer weniger zugehört hatte.
Damals faselte er weiter, ob sie das Wohnzimmer dann Eiche-Natur oder Nussbaum haben wolle. Sie zündete sich eine Zigarette an und dann sagte sie ihm, ihre Stimme stockte, bestimmt wegen dem Rauch, sagte er sich, dass sie weg wolle.
Sie sagte: „Du, ich mach ernst, ich nehme die Kleine und wir gehen rüber.“
„Quatsch“ sagte er.
„Ich habe mit der aus dem Zweiten geredet, die weiß, wie wir das hinkriegen, ich meins ernst, ich geh rüber.“
Sie sah ihn an und er erinnert sich an ihre dunklen Augen und den kantigen Pony, der ihr Gesicht entschlossen wirken ließ.
„Aus dem zweiten. Sag mir ihren Namen“ er überlegte, wer das sein konnte, bestimmt die Kubitza, die war schonmal auffällig, da musste er in der Akte nachsehen.
„Darum geht es nicht, du merkst es einfach nicht“ schrie sie.
„Du Idiot, was ist nur aus Dir geworden?“
Sie stand auf, erwischte mit den Ärmel eine Vase, die auf dem Tisch zerbrach, versuchte die Scherben mit der Hand zusammenzuklauben, wandte sich schluchzend ab.
„Red nicht so mit mir“ sagte er und schaute auf den Knüpfteppich, betrachtete den dunklen Wasserfleck, der sich ausdehnte und bald seine Füße erreicht hatte.
Er wusste, dass sie nicht gehen würde, es nicht tun konnte, denn damit hätte sie sein Leben beendet. Was wäre er gewesen, Führungsoffizier mit republikflüchtiger Frau, das Ende für ihn, beruflich, parteilich, allgemein.
An jenem Abend hatte sie sich ins Schlafzimmer eingeschlossen, schluchzend und er hatte nach Marie gesehen, die schlief, fünf Jahre war sie da alt.
Er fuhr ins Büro, durch Berlin. Es regnete an diesem Abend in Strömen und da fühlte er zum ersten Mal, dass er einsam war.
Verdammt einsam, es fühlte sich an, als würde er mit nackten Füßen auf der zugefrorenen Spree stehen und sich die Kälte langsam immer weiter nach oben fressen, bis sie irgendwann sein Herz erreicht hatte.
Damals fuhr er fast jeden Abend nochmal ins Büro, es war nicht weit von Pankow, wo ihre kleine Wohnung lag, rüber nach Mitte.
Sie hatten sich nichts zu sagen, oft machte sie nicht mal Abendessen oder war überhaupt nicht zuhause, sondern mit Marie bei den Großeltern in Schwerin.
Wenn er jetzt an seine Arbeit denkt, meint er, dass eigentlich alles umsonst war.
Sie hatten ihre Arbeit in den Dienst einer Gesellschaft gestellt, die nicht funktionierte, die zum Scheitern verurteilt war und am Ende blieb nichts übrig. Es blieb nichts übrig.
Sein Büro maß auf der Längsseite acht Meter und auf der Querseite zehn Meter, hatte kein Fenster und war blassgelb gestrichen, vielleicht auch mal weiß und mit der Zeit vergilbt.
Auf dem Schreibtisch befand sich neben der Schreibmaschine, auf der er die Berichte tippte, sein Telefon und Honecker blickte in Schwarzweiß von der gegenüberliegenden Wandseite auf ihn herunter.
Sonst gab es unzählige Akten, die er über jeden seiner Informanten führte, eine Kaffeemaschine und den Lageplan von Berlin. Direkt neben ihm befand sich das Büro einer Sekretärin. Sie war dafür zuständig, Kassetten mit Tonmitschnitten von abgehörten Gesprächen niederzuschreiben und die Protokolle an zuständige Diensteinheiten weiterzugeben.
Er erinnert sich, dass sie Kassetten zum Aufzeichnen wiederverwendeten, normale Musikkassetten, die sie aus Paketen, Westpakete waren das, entnommen hatten.
Da befand sich dann das Gespräch seiner Zielperson auf einer Kassette von Ernst Mosch oder der Oberkrainer Musikanten. So war das.
An der Normannenstraße gab es eine Tankstelle, die hatte rund um die Uhr auf.
Wenn er, irgendwann spätnachts, dann doch nachhause fuhr, weil er ein paar Stunden schlafen musste, bog er dort ein.
Er konnte den Wartburg auf dem Gelände des MfS kostenfrei tanken, das wusste er, trotzdem tankte er ihn und nahm sich etwas zu trinken mit.
Erst war er ganz vorsichtig, aber als er merkte, dass sich das Mädchen hinter dem Tresen nicht für ihn interessierte und auch mit Kopfhörern Westmusik hörte, kaufte er fast jeden Abend eine Flasche. Die Westmusik konnte er immer noch als Druckmittel verwenden, sollte sie ihn auf den Schnaps ansprechen.
Seine Frau war damals mit Marie dann kaum mehr zuhause, ständig in Schwerin und wahrscheinlich hatte sie da jemand Anderes, ihm war es egal.
Wichtig war nur, dass er ein Alibi für sie hatte, er sagte, den Großeltern ginge es nicht gut, sie seien pflegebedürftig, wenn ihn ein Kollege darauf ansprach, wieso er seine Frau selten auf die Mitarbeiterfeste mitnahm.
Er versteckte die Schnapsflaschen im Bettkasten, aber irgendwann war es unnötig, weil er allein war und sich niemand dafür interessierte.
Außer den Kollegen, die seine Alkoholfahne längst gedeutet hatten, aber nichts unternahmen, weil es Wichtigeres zutun gab, damals lief alles auf den 40. Jahrestag hinaus.
Am 09. November 1989 um 18:53 saß er im Büro.
Er hatte im untersten Schubfach seines Schreibtisches, noch jetzt kann er sich an den Geruch des Sperrholzes mit Kiefer-Natur Folie drauf erinnern, ein paar kleine Flaschen. Vier von den fünf Ampelmännchen Schnäpsen hatte er getrunken und starrte teilnahmslos auf die waldgrüne Schreibunterlage aus Kautschuk, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
Als die Türe aufging und Stahlmann aus dem Nachbarbüro kreidebleich hereinkam, ihn aufforderte mit hinüber zum Fernseher zu kommen, da sei was großes am laufen, konnte er nur noch wanken.
Die Zeit danach war verschwommen, wie als läge ein Schleier, Nebel, vor seiner Netzhaut und jemand hätte versehentlich auf Zeitlupe geschaltet.
Als er aufhörte zu trinken, war das, weil Marie ihn sehen wollte.
Inzwischen war sie eine erwachsene Frau, fünfundzwanzig Jahre alt und eine Ewigkeit schon aus Berlin fort.
Da hatte er sich aufgerafft, die ganzen Flaschen in einen Plastikbeutel und hinuntergetragen. Vor ihm, auf dem Asphalt, lag eine Ausgabe der „Bild“ und zum ersten mal fühlte er sich mutig genug, rüberzufahren, in den Westen.
Er fuhr nach Hannover, die A2 runter, mit dem Wartburg, um Marie abzuholen.
Vorher ging er an das Grab seiner Frau.
Er hatte sie zehn Jahre nicht mehr gesehen, sie hatte in Hannover neu geheiratet, war nach der Wende gleich rüber.
Dann Krebs, irgendwann.
Auf dem schmucklosen Grabstein legte er eine Rose ab und blickte in den Himmel.
Da wusste er, dass Vater nicht recht gehabt hatte. Es gab keine Hölle.
Am Ende musste alles gut werden, dachte er, musste es besser sein und vor allem nicht glutrot.
Marie saß ihm gegenüber an dem Tisch, der vom Möbelkombinat, der hatte die Wende überlebt, wie die ganze Wohnung.
Er war nur umgezogen, von Pankow nach Lichtenberg, weil die Rente, obwohl sie vom Arbeitsamt aufgestockt wurde, für die vier Zimmer nicht gereicht hatte.
Er blickte seine Tochter an, hatte Tränen in den Augen, wollte sie nur sehen. Unfähig zu sprechen, schon während der Autofahrt. Und was hatten sie sich auch zu sagen?
Mit beiden Händen umfasst er das Geländer.
Seine Hände sind knochig geworden, die Nägel vom vielen Rauchen vergilbt. In diesem Moment wird ihm klar, dass er nichts ändern kann.
Er hebt sein Bein über das Geländer, steigt dann ganz darüber und balanciert auf der schmalen Wasserrinne.
Wenn er nach unten sieht, ist da keine Höhe, sondern nichts, alles grau.
Er lässt los und stößt sich ab.
Im Fallen stellt er fest, dass der Tod keine Farbe hat, sondern neutral ist. Neutral wie die Lücke, die entsteht, wenn er weg ist. Wenn es da überhaupt eine gibt.
„Vater“ ruft sie von drinnen. Marie tritt auf den Balkon. Er ist leer. Da ist nur der Nebel.

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