Wonder Boy

Essay zum Thema Loslassen

von  toltec-head

Abu Nuwas erzählt irgendwo, wie er einmal auf einer seiner Reisen die Gastfreundschaft einer Beduinen-Familie genoss und der Hausvater ihn unvorsichtiger Weise in einem Bett mit dem jüngsten Sohn schlafen ließ. In der ersten Nacht geschah nichts, aber schon in der zweiten drang er gegen ein kleines Taschengeld und in den folgenden gegen ein immer kleineres in ihn ein, was so immer hätte weiter gehen können, wenn Abu Nuwas sich nicht zu guter letzt  - es war noch keine Woche um - als vollkommen impotent erwiesen hätte. Nun fing der Junge aber zu quengeln an, wollte Nachts keine Ruhe mehr geben, flüsterte dem Dichter ins Ohr, dass er es gerne auch umsonst täte, bis dieser sich schließlich nicht mehr anders zu helfen wusste, als damit zu drohen, alles dem Vater zu sagen, wenn er jetzt nicht endlich schlafen könne.

Impotenz kündet vom Alter, dieses wiederum vom Tod. Die Nachteile tot zu sein, sagt Horaz seinem Freund Sestius, sind hauptsächlich zwei. Erstens wirst du dich nicht mehr betrinken können. Zweitens aber wirst du, was ja nun wirklich schrecklich ist, nicht mehr den schlanken Lykidas bewundern, für den jetzt alle Jünglinge glühen und für den bald die Jungfrauen Feuer fangen. In einer englischen Übersetzung:  Soon your little wonder boy will be a lady´s man. Die Zeitspanne, in der es einem jungen Römer, der nicht als unehrenhaft gelten wollte, erlaubt war, beim homosexuellen Geschlechtsverkehr die passive Rolle einzunehmen, war relativ kurz. Spätestens Anfang zwanzig wurde allgemein erwarte, dass er sich, um die griechischen Ausdrücke zu benutzen, von einem Eromenos zu einem Erastes wandelte. Jedenfalls in der Theorie fing mit anderen Worten für den little wonder boy nun der Ernst des Lebens an, wozu neben dem Zukneifen des Schließmuskels auch Dinge wie Militärdienst und Verkehr mit Frauen gehörten.

Man startet seine sexuelle Karriere als wonder boy, wird dann - wenn alles gut - irgendwann zum lady´s man, was nicht ausschließt, dass man nebenbei zum Spaß auch Jungens fickt, bis schließlich dann so um die Mitte vierzig eine dritte Metamorphose eintritt: Die Sexualität fällt von einem wie ein Blatt von einem Baum of it´s own accord (Osho) ab und man lebt in der Folge wie in einem Traum, sexuelle Untertöne nicht ausgeschlossen. Nahe am zehnten Lustrum hält Horaz fest, ihn könnten weder Weib noch Knaben ("me nec femina nec puer ") mehr erfreuen. Indes:

"Warum - ach, Ligurin! - warum/rinnt einsam mir die Träne über die Wangen?/(...)In nächtlichen Träumen/schon halte ich dich gefangen, schon auf der Flucht verfolge ich/dich durch die Wiesen des Marsfeldes/dich, Starrsinniger, durch der Wasser Wirbel."

Interpreten, die sich den annähernd 50jährigen Horaz nicht in wilder Verfolgung eines starrsinnigen Knaben vorstellen wollten, haben gemeint, bei Ligurin - übrigens heißt Ligurinus übersetzt Schlecker und in der gleichen Ode taucht auch ein Fräulein Artischocke auf- sei nur eine Chiffre für das jugendliche Selbst des alternden Dichters gewesen. Doch schließt die eine Interpretation die andere nicht aus. Die Liebe eines alternden Mannes zu einem (starrsinnigen) Jüngling als zu seinem wahren Selbst, wodurch sie, die Liebe, in Traum übergeht und natürlich Illusion bleibt, kennt man auch anderenorts.


When most I wink, then do mine eyes best see,
For all the day they view things unrespected;
But when I sleep, in dreams they look on thee,
And darkly bright are bright in dark directed;
Then thou, whose shadow shadows doth make bright,
How would thy shadow's form form happy show
To the clear day with thy much clearer light,
When to unseeing eyes thy shade shines so?
How would, I say, mine eyes be blessed made
By looking on thee in the living day,
When in dead night thy fair imperfect shade
Through heavy sleep on sightless eyes doth stay?
All days are nights to see till I see thee,
And nights bright days when dreams do show thee me.

Das 43. Sonett in der Übersetzung von George:

Mein Auge sieht am besten, schliesst es sich,
Da es sich tags an nichtige Dinge wendet.
Doch, schlaf ich, blickt in Träumen es auf dich,
Ist nächtig-hell, hell in die Nacht gesendet.

Denn du, dess Schatten hell durch Schatten bricht,
Wie machte deines Schattens Form erst froh
Den klaren Tag durch dein viel klarer Licht,
Glänzt schon geschlossnem Aug dein Schatten so!

Wie, sag ich, wär des Auges Glück erst gross
Wenn es dich sähe im lebendigen Tag,
Da schon in toter Nacht dein Schatten bloss
Durch schweren Schlaf vor blinden Augen lag.

Tag ist wie Nacht zu sehn eh ich dich sah,
Nacht heller Tag, bringt dich der Traum mir nah.

Die Initialen W.H., bei denen es sich um die Person handelt, welchen W.S. die Sonette widmete, sind immer noch umstritten. Unter anderem wird die Ansicht vertreten, es könne sich um niemand anderen als William Himself handeln. Nun, man kennt das ja schon von Ligurinus, dem Schlecker, her. Weder Schlecker, noch Fräulein Artischocke tritt uns ein ganz anderer, biedermeierlicher Wonder Boy in einem Gedicht von Mörike entgegen. Mir scheint, dem Schwaben gelang,  was weder William Himself noch Herr Flaccus schaffte, nämlich ein Gefühl der von einem Baum wie ein Blatt abfallenden Sexualität zu vermitteln -of it´s own accord. Jedenfalls im Gedicht:

Unter Traenen rissest du dich von meinem Halse!
In die Finsternis lang sah ich verworren dir nach.
Wie? auf ewig? sagtest du so? Dann laesset auf ewig
Meine Jugend von mir, laesset mein Genius mich!
Und warum? bei allem, was heilig, weisst du es selber,
Wenn es der Uebermut schwaermender Jugend nicht ist?
O verwegenes Spiel! Komm! nimm dein Wort noch zuruecke!
– Aber du hoertest nicht, liessest mich staunend allein.
Monde vergingen und Jahre; die heimliche Sehnsucht im Herzen,
Standen wir fremd, es fand keiner ein mutiges Wort,
Um den kindischen Bann, den luftgewebten, zu brechen,
Und der gemeine Tag loeschte bald jeglichen Wunsch.
Aber heutige Nacht erschien mir wieder im Traume
Deine Knabengestalt – Wehe! wo rett ich mich hin
Vor dem lieblichen Bild? Ich sah dich unter den hohen
Maulbeerbaeumen im Hof, wo wir zusammen gespielt.
Und du wandtest dich ab, wie beschaemt, ich strich dir die Locken
Aus der Stirne: O du, rief ich, was kannst du dafuer!
Weinend erwacht ich zuletzt, trueb schien der Mond auf mein Lager,
Aufgerichtet im Bett sass ich und dachte dir nach.
O wie tobte mein Herz! Du fuelltest wieder den Busen Mir,
wie kein Bruder vermag, wie die Geliebte nicht kann!

Eduard deserves the crown. Kein Zweifel: Dieses liebliche Bild, diese Knabengestalt Mörikes Freund Hermann ist echt und keine bloße narzistische Projektion. Aber ich gestehe, dass mir die Geschichte von Abu Nuwas mit der Beduinen-Familie doch von allen die liebste ist. Man spürt, dass der weiter gereiste Dichter eine Woche später, mit einem anderen bestimmt schon wieder konnte, Impotenz und Tod wie Träume etwas nur vorübergehendes sind, das Blatt am helllichten Tag bald schon wieder am Baume hängt.

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