Die Kunst des Starrens (18) - Präsumptionen
Warum der Park kein guter Ort zum Denken und Starren ist
"Ich finde nicht, dass dies ein guter Ort zum Denken und Starren ist", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, nachdem wir - zunächst nur probeweise - auf einer hügeligen Wiese im Park gestarrt und dabei gedacht haben. "Die Kunst des Starrens ist ja schließlich ein singulärer, ein auf sich selbst bezogener Akt, der - wie wir ja bereits feststellten - einer Fokussierung des Denkens nach innen bedarf, sodass naturgemäß jegliche Ablenkung von außen das entstandene Gleichgewicht zwischen Denken und Starren empfindlich stören muss. Ich glaube einfach nicht, dass dieser Ort dem Starren und Denken zuträglich ist", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, während wir im Park - und nicht wie sonst in der Apothekerssohnwohnung - sitzen, "denn ungeachtet ihrer zahlreichen anderen Vorzüge ist die Kunst des Starrens ja ein äußerst fragiler Zustand, durchaus vergleichbar mit der Durchführung eines wissenschaftlichen Experimentes, bei dem es ja auch gilt alle möglichen Einflüsse von außen auszuschalten, da sie das Ergebnis verfälschen könnten. In eben diesem Sinne finde ich, dass dieser Ort aufgrund der Vielzahl an externen Reizen dem Denken und Starren nicht zuträglich ist, vielmehr denke ich, dass dieser Ort ein wahrhaftes - und in diesem Sinne erfolgreiches - Denken und Starren geradezu unmöglich macht", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, während ich eine Frisbee beobachte, die in einiger Entfernung von Mensch zu Mensch geworfen wird.
"Du bist nur eingeschnappt", antwortet Olaf, der Sohn des Apothekers, "eingeschnappt bist du, weil wir uns hier draußen - im Park - und nicht wie sonst drinnen - bei mir - getroffen haben, und nun versuchst du unser Denken und Starren zu sabotieren, bevor du es überhaupt wirklich versucht hast. Deine Präsumptionen sind es, welche dein Denken und dein Starren stören, nicht diese Frisbee dort hinten und auch nicht die Menschen, die sie werfen. Dies erkennt man ja schon alleine daran, dass du dich - als wir kamen - so gesetzt hast, dass du sowohl die Frisbee als auch die Menschen, die sie werfen, fortwährend beobachten kannst, während ich mich so gesetzt habe, dass ich in eine andere – die entgegengesetzte – Richtung blicke, sodass mein Denken und Starren in keinster Weise durch die Frisbee oder aber die Menschen, die sie werfen, beeinträchtigt wird. Hinzu kommt", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, dass du dich - wie ich denke mit Vorsatz - in den Schatten gesetzt hast, während ich mich - und dies ganz eindeutig mit Vorsatz - in die Sonne gesetzt habe. Da ich dich kenne, weiß ich, dass du auch diesen Umstand bald nutzen wirst, um das Denken und Starren im Park zu diskreditieren. Du wirst sagen, dass es dir hier, im Park, zu kalt sei und dann darauf drängen zurück zu mir, in meine Wohnung, zu gehen, um dort (und nicht hier) zu starren und zu denken. Um in deiner Analogie zu bleiben, ist es also der Wissenschaftler, der durch seinen Unmut von vornherein ein erfolgreiches Experiment gefährdet und mitnichten der Versuchsaufbau oder irgendwelche externen Reize", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers.
"Nun gut", sage ich anstelle einer Antwort und erhebe mich, um mich neben Olaf, den Sohn des Apothekers, in die Sonne zu setzen. Sofort ist mir wärmer und auch die Frisbee und die Menschen, die sie werfen, kann ich von dieser Position aus nicht mehr sehen; schweigend sitzen wir dort, sitzen und starren, denken, während ich spüre, dass ich mich einem großen Gedanken nähere, starren und denken, bis mit einem Mal die Frisbee über unsere Köpfe fliegt und sich dann sanft und wie von unsichtbarer Hand geführt direkt vor uns auf die Wiese niedersenkt.
"Siehst du", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, und versuche den triumphierenden Unterton in meiner Stimme zu verbergen, "nun kannst du nicht mehr sagen, dass es lediglich meine Präsumptionen sind, welche die Kunst des Starrens stören. Vielmehr ist es ganz konkret eben diese Frisbee dort, welche unser Denken und Starren stört, diese Frisbee und die Menschen, die sie geworfen haben", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers.
"Entschuldigung", tönt eine Stimme hinter unserem Rücken, "werft ihr bitte mal die Frisbee rüber."
"Du weißt selbst, dass dies nur ein Zufall ist", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, und beugt sich vor: "ohne hier auf die sogenannte Chaostheorie rekurrieren zu wollen, lässt sich doch durchaus konstatieren, dass eine Störung wie diese an jedem Ort möglich und in Relation zu naturgemäß unberechenbaren Wahrscheinlichkeiten immer möglich ist. Ist es nicht so, dass uns in den vielen Jahren des gemeinsamen Denkens und Starrens Störungen wie diese nur allzu vertraut geworden sind, dass sie vielleicht sogar, mit einiger Vorsicht gesprochen, auf diese Art Teil des Denkens und Starrens geworden sind?", fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, „eine Störung des Denkens und Starrens kann niemals ausgeschlossen werden. Nur weil wir bislang in meiner Wohnung zumeist ungestört blieben, bedeutet dies nicht, dass sich daraus irgendeine Regel ableiten ließe.“
"Ihr da", tönt die Stimme in unserem Rücken, "macht schon. Die Frisbee".
"Ich denke, dass man hier durchaus auskommt, ohne das Induktionsproblem zu bemühen", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, "und es ist wohl auch richtig, dass man sich bei jeder Retrospektive gewiss sein muss, dass diese nur Realität (und damit dann Retrospektive) wurde, weil neben den eigenen (und dabei nur den bewussten) Entscheidungen eine Vielzahl von unbekannten und in diesem Sinne unbewussten Faktoren erst die (temporäre, subjektive) Realität geschaffen haben, die dann aus der Retrospektive so gewiss - als Vergangenheit - erscheint. Ich kann also nicht sagen, dass wir mit Gewissheit bei dir - auf dem Futon - ungestört geblieben wären, aber ich kann sagen, dass wir hier - im Park - mit Gewissheit gestört wurden, während wir starrten und dachten. Ebenso kann ich nicht ausschließen, dass diese Frisbee, geworfen von den Menschen, die sie in den Park getragen haben, durch einen Riss in Raum und Zeit, der sich - sagen wir einmal - alle 100000 Jahre für einen kurzen Moment in diesem Park öffnet, direkt hinüber zu dir und mir in die Apothekerssohnwohnung geflogen und direkt vor dem Futon gelandet wäre, aber", sage ich vorwurfsvoll zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, "das wäre sehr unwahrscheinlich und tu du mir doch nicht so, als wärest du frei von Präsumptionen. Du bist doch hier in diesen Park gegangen, weil du davon ausgegangen bist, dass der Park hier (noch immer) existiert. Du hast vorausgesetzt, dass es hier eine Schwerkraft gibt, die es dir erlaubt auf der Wiese (ebenso wie auf dem Futon) zu sitzen. Du atmest unablässig diese Luft ohne jegliche Sorge, dass sie von dem einen auf den anderen Moment vergiftet ist, du tust doch nur so, als wärst du Skeptizist und eben jene auf die Spitze getriebene Heuchelei ist es doch wohl auch, die den respektablen Philosophen von dem geschmähten Geisteskranken trennt, der wirklich Angst hat, dass ihm der Himmel auf den Kopf oder der Kopf in den Himmel fällt. Man kann sich gemeinhin nicht den Abgrund aussuchen, in den man stürzt. Du bist doch nur ein Teilzeit-Skeptizist, ein Teilzeit-Pluralist."
"Ihr blöden Kiffer", sagt eine Stimme neben uns, dann geht ein junger Mann an uns vorbei, greift die Frisbee mit einer schnellen und irgendwie zornigen Bewegung. Er trägt lange, schwarze Shorts, auf denen ein roter Drache sich durch gelbe Bäume schlängelt. Einen Moment lang wartet der Mann auf eine Antwort, dann wendet er sich ab und verschwindet kopfschüttelnd aus unserem Sichtfeld.
"Und da du ja mit Wahrscheinlichkeiten operierst, da ich und damit wir ja nun mal mit Wahrscheinlichkeiten operieren müssen", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, "kann ich nun doch - durch die Empirie bestätigt - sagen, dass dieser Ort - der Park - kein guter Platz zum Denken und Starren ist, während deine Wohnung, die Apothekerssohnwohnung, von je her ein guter - vielleicht sogar der denkbar beste - Ort zum Starren und Denken gewesen ist. Bislang ist dort auch noch nie eine Frisbee gelandet."
"Nun gut", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, anstelle einer Antwort, als wir uns erheben, "gehen wir", sagt er, "aber du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du meine Wohnung als Apothekerssohnwohnung oder mich als Sohn eines Apothekers bezeichnest", sagt Olaf der Sohn des Apothekers. "Ich weiß es", sage ich nach einer Weile, während ich die Frisbee beobachte, die so sanft steigt und sinkt, während wir durch den Park in Richtung der Apothekerssohnwohnung gehen.