Der kleinere Polizist hatte augenscheinlich das Sagen, denn der andere sprach kaum. Er war alt, viel älter als Anas Vater, oder sah zumindest so aus, und erinnerte sie mit seinen weißen Haaren und dem dichten Bart ein wenig an den Weihnachtsmann. Auch seine Proportionen passten hervorragend zu diesem Vergleich. Da Ana sich seinen Namen nicht gemerkt hatte, beschloss sie, ihn Rudolf zu nennen.
„Also“, forderte er die Eltern mit sonorer Stimme auf, „dann erzählen Sie mal.“
Der Morgen danach war still. Anas Vater saß am Esstisch und starrte ins Leere. Ana stocherte lustlos in ihrem Pappschüsselmüsli ohne tatsächlich zu essen. Mutter putzte. Arbeitsplatte. Schränke. Spülbecken. Wieder von vorn. Die Küchenuhr war unerträglich laut und Ana unerträglich müde.
„Ich möchte heute daheim bleiben“, sagte sie.
„Natürlich, Süße“, sagte Mutter und bohnerte die Edelstahlspüle zum dritten Mal.
„Ihr müsst in der Schule anrufen und mich entschuldigen“, sagte Ana.
Vater regte sich nicht, Mutter bohnerte weiter. Die Stille zwischen ihnen war dicht, fast sichtbar, greifbar. Wenn ich wollte, könnte ich sie mit einem Messer zerschneiden, dachte Ana. Ich würde kleine Würfel daraus schneiden und sie nach Bedarf in den Raum werfen. Einfach eine Prise Stille über unliebsame und anstrengende Gespräche streuen, das wäre schön.
Sie ging schlafen.
„Wie sieht sie denn aus?“ Er zückte den Notizblock.
„Grauenvolle Schminke“, sagten Ana und Vater wie aus einem Mund.
Rudolf sah fragend von der einen zum anderen, die Stirn leicht in Falten, schwieg aber.
Mutter warf beiden einen finsteren Blick zu, unter dem sie sich wegduckten, bevor sie ausführlich beschrieb, wie alt Dina war, wie groß, irgendwo ein Foto herzauberte, das Ana noch nie gesehen hatte, und dann noch äußerst konkrete Angaben zu Dinas Kleidung, derzeitigen Freundinnen und möglichen Aufenthaltsorten machte. Gleich erzählt sie noch, was Dina heute Morgen zum Frühstück hatte, wie häufig sie aufs Klo geht, und erwähnt ihre Höchstpunktzahl beim Kniffel, dachte Ana.
„Ungetoasteten Toast, ein Glas Orangensaft, alle drei bis vier Stunden, 345.“
Einen kurzen Moment starrte Ana Mutter mit offenem Mund an, bis ihr aufging, dass ihr Gehirn ihr einen Streich gespielt hatte. Niemand beachtete Ana. Mutter erzählte, Rudolf notierte, Vater machte sich mit gelegentlichen Einwürfen wieder einmal unbeliebt und der junge Polizist hörte aufmerksam zu.
Ana erwachte am späten Nachmittag. Der fehlende Nachtschlaf hatte seinen Tribut gefordert. Ein Gang durchs Haus ergab, dass Vater immer noch oder schon wieder am Esstisch saß und starrte. Mutter tigerte durch das Wohnzimmer und telefonierte. Als sie Ana in der Tür stehen sah, lächelte sie kurz, kam herüber, tätschelte Ana über den Kopf und tigerte rastlos zurück in die Gegenrichtung. Das Badezimmer war ungewohnt leer. Das fühlt sich nicht richtig an, überlegte Ana. In jedes Badezimmer gehört eine sich schminkende Dina, die grauenvoll aussieht, wenn sie es verlässt.
„Könnte sie davongelaufen sein?“ fragte Rudolf.
„Was? Dina? Nein. Dina ist sehr zuverlässig und verantwortungsbewusst.“
„Ana wäre die, die wegläuft.“
„Na herzlichen Dank auch“, maulte Ana leise. Die Polizisten beachteten beide Einwürfe nicht.
„Dina läuft nicht davon“, wiederholte Mutter. „Da muss etwas passiert sein.“
„Es gäbe also keinen Grund zum Weglaufen?“
„Dinas Noten sind gut. Wir sind eine liebevolle und harmonische Familie.“
„Streiten sie manchmal?“
Mutter schwieg ertappt.
„Gestern haben sie gestritten“, sagte Ana zaghaft. Die Polizisten wandten sich ihr zu.
„Aber nicht mit Dina. Und nachdem der Streit vorbei war, war Dina so wie immer.“
Der Zutritt war ihr unter Todesstrafe untersagt, das hatte Dina ihr mehr als einmal eingebläut. Was will sie denn jetzt tun, fragte Ana sich. Wieder auftauchen?
Sie öffnete die Tür.
Das Pink erschlug sie und trieb sie beinahe wieder rückwärts aus dem Zimmer. Die Wände und die Zimmerdecke waren pink, der Teppichboden war pink, die Bettwäsche war Pink, der Kleiderschrank war mit pinkfarbener Dekorfolie beklebt. In der Mitte des Raumes hing ein scheußlicher, natürlich pinkfarbener Kronleuchter mit schaukelnden Zapfen aus Plastikglas von der Decke, der furchtbar kitschig aussah . Das Zimmer war penibel ordentlich. Die Bettdecke war perfekt arrangiert. Keine überflüssigen Utensilien oder Spielzeuge auf dem Schreibtisch. Alles war in Regale und Schubladen wegsortiert, außer die Dinge auf dem Schminktisch. Töpfchen reihte sich an Töpfchen, Tiegelchen an Tiegelchen, Lidschatten stapelten sich übereinander und in einem nicht ganz so kleinen Körbchen lagen Lippenstifte, Mascara-Applikatoren und allerlei andere Kosmetik, die Ana beim besten Willen nicht hätte benennen können. Abgehauen ist sie schon mal nicht, stellte Ana fest. Die Schminke wäre sonst weg.
„Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?“
„Beim Frühstück. Es gab trockenen Toast und Orangensaft. Dina isst morgens nicht gerne. Gegen halb acht nahm sie ihre Tasche und ging zur Schule.“
„Und Sie?“
„Wie?“
„Wann haben Sie ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“
„Beim Frühstück.“
„Und du?“
Ana überlegte kurz. Die geballte Aufmerksamkeit der um sie herumstehenden Erwachsenen schüchterte sie ein. Sie hatte das Haus mit Dina verlassen, aber bereits ein paar Querstraßen weiter trennten sich ihre Wege.
„An der Kreuzung“, brachte sie schließlich hervor.
„Ich möchte nach draußen“, sagte Ana.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Spätzchen.“
Nach ein paar Stunden war Vater endlich aus seiner Lethargie erwacht. Er hatte es Mutter gleichgetan und angefangen zu putzen, aber sein Unterfangen direkt wieder eingestellt, als ihm aufging, dass das komplette Haus bereits glänzte als ginge es um den Titel ‚Putzteufel des Jahres‘. Stattdessen hatte er sich auf den Papierkram gestürzt und sortierte nun, nach erfolgreich abgeschlossenen Steuerklärungen der letzten drei Jahre, fleißig Kontoauszüge.
„Aber ich mag nicht nur hier herumsitzen. Das ist auch gar nicht gut für meine Entwicklung. Kinder brauchen frische Luft und müssen im Dreck spielen, um gesund zu bleiben“, nickte sie.
„Bitte?“, schob sie nach.
Vater bedachte sie mit einem liebevollen Blick.
„Ich möchte nicht, dass du im Wald spielst, okay? Wenn du unbedingt nach draußen möchtest, geh meinetwegen in den Garten. Und bleib da, hörst du?“
„Welche Kreuzung?“ wollte Rudolf wissen.
„Die Mädchen trennen sich an der Kirche“, übernahm Margarete. „Ana geht dann alleine weiter und Dina trifft sich am Marktplatz mit einigen Schulkameradinnen.“
„Sie trennen sich?“
„Sie gehen in unterschiedliche Schulen.“
„Verstehe. Und der weitere Tagesablauf ist normalerweise …?
„Bis um drei Uhr bleibt Dina in der Schule. Dann kommt sie nach Hause. Das bekommen wir nicht immer mit, da sie einen eigenen Schlüssel hat. Um sechs gibt es normalerweise Abendbrot. Da haben wir gemerkt, dass Dina nicht hier ist.“
„Und ob sie nach der Schule noch einmal hier war, wissen Sie nicht?“
„Nein“, sagte Vater. „Aber wir wissen, dass sie in der Schule war. Ich habe mit einer ihrer Freundinnen telefoniert. Dina hat die Schule wie üblich um drei verlassen. Sie gingen auch miteinander nach Hause. Bevor sie sich am Marktplatz trennten, verhielt sich Dina jedoch komisch.
„Komisch? Komisch wie?“
„Wir müssen sie suchen“, sagte Mutter.
„Die Polizei sucht sie“, erwiderte Vater.
„Ich rede von einer Vermisstenanzeige, Flugblättern, Plakaten. Schau!“ Sie reichte ihrem Mann ein Blatt Papier. Ana schob sich neben ihn und betrachtete den Ausdruck.
Das Erste, was sie sah, war eine lachende Dina. Darüber stand in fetten Lettern ‚Vermisst‘. Unter dem Foto wurden Eckdaten aufgezählt, außerdem eine detaillierte Beschreibung der Kleidungsstücke, die Dina am Vortag getragen hatte. Auch ihre Tasche mit den unzähligen Buttons hatte Mutter so ausführlich beschrieben, dass sogar die einzelnen Buttonmotive aufgeführt waren. ‚Ich liebe Einhörner!‘ oder „Hauptsache, die Schminke sitzt!“ oder ohne Slogan, dafür mit Bildern von ‚Hello Kitty‘.
Darunter prangte ein ‚Belohnung!‘, das beinahe ebenso fett gedruckt war wie das ‚Vermisst‘. Ana mochte das Bild von Dina.
„Wow“, sagte Papa, nachdem er das Blatt ein paar Minuten lang studiert hatte. „Das ist gut geworden.“
„Und wir brauchen einen Suchtrupp“, sagte Mama. „Das heißt, genau genommen haben wir einen. Ich habe den ganzen Mittag in der Nachbarschaft herum telefoniert, außerdem mit dem Gemeindeamt, Zeitung und Radio. Morgen früh geht’s los.“
„Wow“, sagte Papa wieder. „Das ist wirklich beeindruckend.“
„Es kann ja nicht jeder den ganzen Tag nur apathisch am Tisch sitzen, vor sich hin starren und Däumchen drehen!“, zischte Margarete vorwurfsvoll.
Ana ging.
Nicht in den Wald. So unfair, dachte Ana, während sie wütend in den Garten stapfte. Dina verschwindet und deswegen darf ich nicht in den Wald und muss im Garten spielen.
„Blöder Garten!“, schimpfte sie und trat gegen einen Baumstumpf. Zu fest, wie ihr der darauf folgende Schmerz sofort signalisierte. Ihre Augen füllten sich mich Tränen und sie hätte nicht sicher sagen können, ob es vor Zorn, Schmerz, Sorge um ihre verschwundene Schwester war oder alles zusammen war. Sie warf ein paar Steine in den Teich und beobachte die aufgescheuchten Goldfische. Anschließend schlug sie mit einem Stock ein paar vertrocknete Gräser um, die so hoch waren wie sie selbst. Der Rasenmäher hatte dieses Jahr nicht einmal das Sonnenlicht gesehen. Die ganze Zeit eingesperrt im Schuppen, wie Rapunzel in ihrem Turm, nur ohne Haare, alte Frau und Option auf Prinz. Ana überlegte, wie sich wohl ein Rasenmäher fühlte, der keinen Rasen mähen durfte.
So verwildert war der Garten gar nicht so langweilig, stellte sie fest. Groß war er, mit vielen Bäumen, die sie alle schon viele Millionen Mal erklettert hatte. Ein Jägerzaun, noch höher als sie selbst, trennte den hinteren Bereich des Gartens vom Waldrand. Die Bäume ließen sich an dieser Stelle schon nicht mehr auseinanderhalten. Irgendwann, weit bevor Anas Eltern das Haus kauften, hatte jemand inmitten der Wildnis einen Zaun gesetzt und das eingezäunte Areal offensichtlich erfolgreich als Grundbesitz annektiert. Sie stand am hinteren Rand und warf sehnsüchtige Blicke durch die Lücken zwischen den Holzlatten in den Wald.
Vater wiederholte das Gespräch.
„Ja?“
„Lisa?“
„Ja. Wer ist denn da?“
„Hallo Lisa, Dinas Papa ist hier. Ist Dina zufällig bei dir?“
„Dina? Nein.“
„Weißt du vielleicht, wo sie ist?“
„Nein.“
„In der Schule wart ihr heute aber, oder?“
„Ja. Biologie ist ausgefallen, aber das war auch das Aufregendste heute.“
„Ist irgendwas Ungewöhnliches passiert?
„Jetzt wo Sie es sagen …“, Lisa verstummte und zögerte einen Moment, „auf dem Heimweg war Dina komisch. Wir hatten gerade den Marktplatz erreicht und waren stehengeblieben um uns zu verabschieden, da bleib sie unvermittelt wie angewurzelt stehen und starrte auf die andere Seite des Platzes. Wir sahen natürlich auch hinüber. Außer den üblichen Marktständen und den üblichen Marktbesuchern gab es aber nichts, was uns ins Auge gefallen wäre. Nachfragen quittierte sie mit Kopfschütteln, verabschiedete sich eilig und bog hastig nach rechts ab. Wir wunderten uns und achteten beim Überqueren des Marktplatzes auf alles und jeden, aber wirklich auffällig erschien uns nichts.“