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Text

von  keinB

Den Abend zuvor hatten die Eltern gestritten. Soweit Ana mitbekommen hatte, drehte sich die Diskussion initial um Mutters Kochkünste und Vaters Fernsehkonsum. Das waren durchaus legitime Reibungspunkte, wie Ana zugeben musste, und wenn ihre Eltern nicht wenigstens einmal in der Woche diese Themen auf den Tisch brachten, war einer von beiden für ein paar Tage außer Haus oder jemand gestorben. Meistens einigten sie sich nach einem hitzigen Wortgefecht darauf, dass beide Recht und beide Unrecht und auf jeden Fall Fehler hatten und es herrschte wieder einige Tage Ruhe. Doch an jenem Abend war irgendetwas entsetzlich ausgeufert.

Bis auf die Tatsache, dass sie nicht am Esstisch frühstücken konnten, Pappgeschirr benutzen mussten und es an diesem Morgen kein Obst und keine Eier gab, war der nächste Morgen wie jeder andere auch. Mutter war tiefenentspannt und Vater hatte einen Kater. Dina hatte sich wieder verschminkt und Ana löffelte ohne große Lust in ihrem Müsli.
„Das schmeckt nicht mit Wasser!“ grummelte sie.
„Tut mir leid, Süße“, sagte Mutter, „Milch ist alle. Möchtest du etwas anderes?“
„Was gibt es denn?“
„Wie wär’s mit Toast?“
„Ungetoastet?“
Mutter zuckte die Achseln.
„Der Toaster ist leider gestern Abend einem kleinen Unfall zum Opfer gefallen.“
Ana seufzte und löffelte widerwillig ihr Müsli weiter.

Ana hatte nie, egal, wie oft sie den Streit ihrer Eltern im Nachhinein durchdachte, analysierte, sezierte, herausgefunden, warum dieser so eskaliert war. Als sie Jahre später einmal danach fragte, erntete sie nur leere Blicke aus ausdruckslosen Gesichtern. Stirnrunzeln. Räuspern.
„Ich glaube, das war der schlimmste Streit, den wir je hatten“, sagte Margarete und vertrieb damit die Stille, die zwischen ihnen herumlungerte. Sie sah ihren Exmann an.
„Angefangen hatte es so wie immer, wenn wir mal wieder unzufrieden mit dem anderen waren. Dir gefiel nicht, wie ich kochte, und mir gefiel nicht, dass du immer nur vor der Glotze saßt. Fußball, Autorennen, Skispringen, Tennis, Darts. Ich glaube, es gibt keinen Sport, den du nicht regelmäßig gesehen hast.“
„Doch. Rhythmische Sportgymnastik und Synchronschwimmen“, warf Anas Vater ein.
Margarete musterte ihn einen Moment und hob kaum merklich die linke Augenbraue. Ana fiel es nur auf, weil sie ihre Mutter lange kannte und deren Mimik viele Jahre exzessiv studiert hatte, studieren musste.
Margarete fuhr fort.
„Ich weiß noch, dass dein Vater sich vehement darüber beschwerte, dass ich zu wenig Fleisch auf den Tisch brachte. ‚Wenn ich ständig nur Grünzeug futtern wollte, wäre ich ein Kaninchen geworden‘, maulte er und schob dann einige unflätige Bemerkungen über meinen angeblich nicht vorhandenen Geschmackssinn nach.“
„Du hast nie Gewürze ins Essen getan. Dein Essen als ‚lasch‘ zu bezeichnen, wäre noch gelobt.“
„Vielleicht waren wir an dem Tag beide gereizt oder hatten schlechte Laune oder beides. Ein Vorwurf jagte den anderen, bauschte ihn auf, schaukelte ihn hoch, bis der ganze Raum gefüllt war. Wir waren plötzlich bei meiner Migräne und seinen Kneipenbesuchen, dann fielen Begriffe wie Frigidität, Nymphomanie und Impotenz.“
Ana spürte, wie sie rot wurde. Ihre Mutter schien es nicht zu bemerken. Oder sie ging glücklicherweise nicht darauf ein. Ana war dankbar, egal, welche Option zutreffen mochte.
„Dann explodierte irgendwas. Vermutlich ich. Ich glaube, ich nahm einen Teller und schmiss ihn auf den Boden. Die Scherben stoben noch in alle Richtungen davon, da warf ich bereits den zweiten Teller nach deinem Vater. Ich traf nicht, nicht mit diesem Wurf. Er stand da, reglos, wie vom Donner gerührt und starrte mich einen Moment einfach nur an. Dann fing er an zu Brüllen und die Hölle brach los.“
Ana nickte langsam. Sie erinnerte sich wieder.

„Wo ist deine Schwester?“
„Im Bad. Übt wahrscheinlich wieder Schminken.“
„Hm“, machte Anas Mutter.
„Findest du nicht auch, dass Dina viel zu viel Zeit im Bad verbringt?“ wandte sie sich an ihren Mann. Vater zuckte mit den Schultern und erwiderte nichts.
Sie saßen am gedeckten Esstisch. Anas Mutter hatte den ganzen Tag damit verbracht, die Küche aufzuräumen und zu putzen. Nichtsdestotrotz befanden sich einige Farbflecke auf der Tapete, eines der Hängeregale hatte eine deutliche Schieflage und zwei Wandbilder fehlten. Links neben der Spüle standen Töpfe auf der Arbeitsfläche, rechts deformierte Konserven. Es roch nach Zitronenreiniger. Und nach Harz und Moos, Mutter hatte wieder Duftkerzen angesteckt. Ana rümpfte die Nase.
„Wie lange werden wir von Papptellern essen müssen?“
„Wo bleibt Dina schon wieder? Wie wichtig kann so ein bisschen Eyeliner denn sein?“ Mutter ignorierte sie geflissentlich. Ana sah vorwurfsvoll zu Vater.
Mutter stand auf und verließ den Raum. Vater zwinkerte Ana zu.
„Die Mama und ich kaufen am Wochenende neues Geschirr. Bis dahin musst du noch durchhalten. Meinst du, du schaffst das?“
Ana schnaubte und blies dabei die Luft aus den Nasenlöchern.
„Bis zum Wochenende?“
„Ja. Tut mir Leid, Spätzchen.“
Sie verzog das Gesicht.
„Sei tapfer, okay? Und beschwer dich bitte nicht bei deiner Mama. Die ist grade ein bisschen empfindlich.“
„Okay.“
„Danke, Spätzchen. Mal schauen, vielleicht finde ich am Samstag beim Einkaufen ja auch was Schönes für dich. Sozusagen als Belohnung, wenn du bis dahin die Mama nicht reizt.“
Ana nickte zufrieden. Keiner von beiden ahnte, dass die Belohnung bald vergessen sein würde.

Obwohl sie es vorgezogen hatte, in ihr Zimmer zu gehen, als sie begriff, dass es sich nicht um einen normalen Streit handelte, war es ihr unmöglich gewesen, das Geschrei und das Klirren des berstenden Geschirrs auszublenden. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie das gellende „Nicht die Suppenschüssel!“ und direkt darauf folgend das letzte Porzellanopfer gehört hatte, wagte sie sich wieder aus ihrem Zimmer. Als sie das Badezimmer passierte, sah sie Dina in der offenen Tür. Der Lidschatten sah grauenvoll aus.
„Was machst du?“
„Ich gehe nachsehen, was sonst?“
„Dad has left the building.“
„Hä?“
„Papa ist gegangen. Vermutlich in die Kneipe“, übersetzte Dina.
„Mama?“
„Liegt auf der Couch. Hat eine von ihren Tabletten eingeworfen.“

„Sie ist nicht da.“
„Was meinst du?“ Anas Mutter blickte in ratlose Gesichter.
„Dina ist nicht da. Nicht im Bad. Nicht in ihrem Zimmer. Und auch sonst in keinem anderen Zimmer.“
„Hat sie gesagt, dass sie noch weg wollte? Oder später kommt?“
„Mir nicht. Dir?“
Ana schüttelte den Kopf. Als würde Dina mit mir über irgendetwas reden, dachte sie.
„Ich rufe mal bei Lisa an“, sagte Vater, „vielleicht ist sie dort.“

Stunden, nachdem die Polizisten wieder gegangen waren, war Ana immer noch wach. Sie saß auf der Couch, hörte ihre Eltern im Nebenraum reden und starrte auf den Fernsehbildschirm, über den irgendwelche Cartoons flimmerten, Vater hatte eine DVD eingelegt. Sie sah nicht wirklich, dass Tom versuchte, Jerry zu fangen. Oder war das Gundel, die Dagoberts Glückskreuzer wollte? Sie wusste es nicht, konnte sich nicht konzentrieren und das war nur zum kleinsten Teil der unbestreitbar vorhandenen Übermüdung geschuldet.
Es war, als hätte ihr jemand ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Wattiert wäre das Wort ihrer Wahl gewesen, hätte sie es nur schon gekannt. Alle Gespräche an diesem Abend waren an ihr vorbeigezogen, auch jene, in die sie involviert wurde, fast, als sei sie nur stumme Beobachterin, Zuschauerin. Publikum. Genau, Publikum. Sie fühlte sich wie Publikum, zur Passivität und zum Warten verdammt, zum Dasitzen und geduldig sein. Die Eltern würden das schon schaukeln. Erwachsene wussten immer, was zu tun war. Und was richtig war. Und wie man Dinge in Ordnung brachte. Sie war nur ein Kind, ein kleines Mädchen, das zu Mama rannte, wenn es sich wehtat, und zu Papa, wenn es etwas nicht verstand. Das hatte sie bisher nie gestört, aber jetzt, da sie sich hilflos fühlte, nutzlos, war es ihr zuwider. Am liebsten wäre sie losgezogen um Dina zu suchen.
„Was hast du vor?“
„Ich gehe Dina suchen.“
„In Ordnung. Wann kommst du zurück?“
„Wenn ich sie gefunden habe.“
„Wozu das Holzschwert?“
„Wenn ich Dina finde und sie in Gefahr ist, dann greife ich damit an, was immer sie in Gefahr bringt.“
„Das klingt nach einem überaus guten Plan, Ana. Pass auf dich auf. Und bring Dina heil zurück.“
„Natürlich.“
Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie mit ihrer Schwester zurückkehrte. Wie man sie feiern würde, wie Dina aus lauter Dankbarkeit über ihre Rettung endlich anfinge, mit ihr zu reden.

Der Raum, den sich Küche und Essbereich teilten, sah aus wie ein Porzellanladen nach einem Elefantenbesuch. Ana blieb im Türrahmen stehen, begutachtete die Scherbenberge und schüttelte den Kopf.
Die Schränke standen auf, alle, und Ana schluckte, als ihr bewusst wurde, dass sich keinerlei Essgeschirr mehr im Haus befand. Oder zumindest keinerlei benutzbares. Das ehemalige Geschirr der Familie zierte in Millionen von Scherben, weiß, nicht weiß, Glas, den Fußboden. Ana wusste zwar nicht, wie viel genau eine Million war, aber dass eine Million viel war, das wusste sie. ‚Million‘ war die höchste Zahl, die sie kannte.
Mutter schien keine Gefangenen gemacht und sich nicht mit dem Geschirr zufrieden gegeben zu haben, überall lagen Konservendosen, zum Teil verbeult, zum Teil aufgeplatzt, außerdem alle Arten von Trockenwaren, Reis. Bohnen, Linsen. Der Inhalt der Obstschale hatte ebenfalls dran glauben müssen, Ana sah eine Banane, die matschig im Regal über dem Kühlschrank klebte, ein paar Äpfel lagen zerdellt auf dem Boden vor dem Kühlschrank. Der Wand hatte die Begegnung mit einer vollreifen Mango nicht gut getan, ein feuchter Fleck auf zwei Metern Höhe zeugte davon. Der Mango hatte die Begegnung mit der harten Wand allerdings auch nicht gut getan, eine Seite aufgeplatzt und zerfasert lag sie zwischen einem geborstenen Milchkarton, einer erstaunlicherweise intakten Packung getrockneter Aprikosen und einer gusseisernen Pfanne.
Irgendwann musste Mutter damit angefangen haben, das Abendessen nach Vater zu werfen. Über dem längeren Teil der Eckbank klebte eine Schüssel mit der offenen Seite an der Wand, gelber Matsch an den Rändern. Kartoffelbrei, vermutete Ana. Rechts daneben prangte ein großer sattgrüner Fleck, ringförmig darum verteilt viele kleine grüne Flecke, Spritzer offensichtlich. Auf dem Tisch lag ein Topf, an und in dem sich noch Reste von Grün befanden. Spinat, dachte Ana. Gut so, sie mochte Spinat nicht.
Mutter lag auf der Couch, ein Tuch über dem Gesicht. Sie schnarchte. Etwas Weißes klebte großflächig auf ihrer roten Bluse, Mehl, vermutete Ana. Auf dem Tisch neben der Couch lag ein Blister mit Tabletten, zwei fehlten. Ana griff danach und drehte ihn mehrmals in den Händen. Sie versuchte zu entziffern, was auf der Rückseite stand, aber da es sich nur um eine sinnfreie Aneinanderreihung von Buchstaben zu handeln schien, verlor sie schnell das Interesse und legte den Blister zurück.
Sie ging zurück in ihr Zimmer.
„Heute gibt es kein Abendessen, Mr Bie.“
Mr Bie sagte wie immer nichts. Im Zuhören hingegen war er große Klasse.

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Kommentare zu diesem Text


 Annabell (02.11.17)
Hallo keinB, wie wäre es, ein Buch daraus entstehen zu laasen? Ich könnte Dir dabei behilflich sein. Oder ist es gar schon bei einem seriösen Verlag gelandet? Du schreibst sehr detailliert und mitreißend. Ich lese Deine Texte gern und empfehle Dich weiter.
LG Annabell

 keinB meinte dazu am 03.11.17:
Hallo Annabell,

ich muss, glaube ich, erst mal gucken, wie weit ich mit der Geschichte komme. ;)

Vielen Dank und liebe Grüße
KB
Graeculus (69)
(02.11.17)
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 keinB antwortete darauf am 03.11.17:
Sollte jetzt kein ... Diskussionsanker werden. Hat mich nur überrascht. :)

Vielen Dank & liebe Grüße
KB

 Der_Rattenripper (08.12.17)
KeinB, kein schlechter erster Teil, wenn mich auch die sprechende Küche sehr stört. Zweiten Teil angelesen nicht zu Ende gelesen, warum? Berechtigte Frage, zu viel Altagsgewäsch, sorry ist aber so. Mann beschwert sich übers Essen, dazu ein Dialog, dass interessiert mich als Leser überhaupt nicht. Ein Dialog sollte die Handlung vorantreiben und nicht im Altagsgewäsch enden. Ich habe das Kapitel mal kurz überflogen, dass komplette Kapitel ist überflüssig und kann man ersatzlos streichen.

Schönen Gruß

Der Rattenripper.

 keinB schrieb daraufhin am 08.12.17:
So unterscheiden sich Leser. Manches verpacke ich persönlich lieber in Alltagsgewäsch, als es nüchtern in zwei Sätzen abzureißen. ;)

Dank&Gruß

Antwort geändert am 08.12.2017 um 21:32 Uhr
Marjanna (68)
(11.01.18)
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 keinB äußerte darauf am 29.01.18:
Dankeschön:)
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