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von  keinB

Eines musste man Margarete lassen: die Suchmannschaften waren hervorragend organisiert. Es war Samstag. Der große Saal des Gemeindehauses war voll, mindestens eine Million Menschen, schätzte Ana. Sie stand neben der großen Eingangstür auf einem Stuhl, sie hatte nicht mit auf das Rednerpodest gewollt, und beobachtete die Menschen. Erwachsene, Kinder, Männer, Frauen, die halbe Ortsbevölkerung war im Saal. Der Landfrauenverein hatte belegte Brote und Tee und Kaffee in Thermoskannen sowie Plastikbecher auf ein paar Tischen bereitgestellt, um die sich einige der Anwesenden erstaunlich zivilisiert scharten. Ana sah Klassenkameraden und Lehrer von Dina. Hinten am Rand standen ein paar Arbeitskollegen von Mama. Weiter vorne Kneipenfreunde von Papa. Die freiwillige Feuerwehr war beinahe komplett erschienen und überall raunte und plapperte es gedämpft.
Vater saß in sich zusammengesunken auf einem Stuhl auf dem Podest und wirkte etwas verloren. In Anas Kopf formte sich das Bild einer Marionette mit durchtrennten Fäden. Mutter neben dem Rednerpodest, das Mikrofon , gestriegelt und geschniegelt, unterhielt sich noch mit dem Pfarrer. Dann nestelte sie am Mikrofon und klopfte probehalber darauf. Sofort tönte es scheußlich laut aus den Lautsprechern.
„Hallo, guten Morgen!“, sagte Mutter. „Danke, dass ihr so zahlreich gekommen seid, um uns bei der Suche nach unserer Dina zu unterstützen.“
Die Gespräche verstummten.

Natürlich hatte Ana darauf bestanden, mitzusuchen. Und natürlich hatte sie darauf bestanden, dem Trupp beizuwohnen, der einen Teil des Waldes durchsuchen sollte. Sie war sich immer noch sehr unschlüssig, was sie über die ganze Situation dachte. Fühlte. Fühlen sollte. Dina war weg, verschwunden. Ihr war klar, dass das schlimm war, sehr schlimm, und dass es Papa irgendwie kaputt machte, während Mama in gut durchdachten Aktionismus verfiel. Aber was genau es mit ihr machte, hätte sie beim besten Willen nicht erklären können. Sie war traurig, auf eine eigentümliche Art und Weise, da war ein Gefühl von Leere, als fehlte ein Stück von ihr. Andererseits hatten Dina und sie nicht viele Berührungspunkte, dass sie zusammen gespielt hatten, musste schon viele Jahre her sein und außer zum Frühstück, Abendessen, bei den obligatorischen Familienunternehmungen am Wochenende und im Badezimmer, teilten beide ihre Existenz mit der jeweils anderen nur die ersten Gehminuten des Schulwegs, das einzige Gemeinsame auf diesen Metern, war das in Gedanken versunkene Schweigen, während sie nebeneinander herliefen.

Mutter hatte eine PowerPoint Präsentation erarbeitet, die von einem Beamer über dem Eingang des Saals auf eine Leinwand an der gegenüberliegenden Wand projiziert wurde. Dina lächelte überdimensioniert von der Wand auf die Freiwilligen, die Margaretes Vortrag konzentrierte Aufmerksamkeit schenkten. Nach Dinas Lächeln folgten eine Aufzählung der Kleidungsstücke zum Zeitpunkt des Verschwindens, eine Liste mit Dingen, die sie bei sich hatte, und eine Landkarte. In der Mitte befand sich die Stadt, mit zwei dicken gelben Punkten. Neben dem einen stand ‚Elena’s Beauty Palace‘, neben dem anderen ‚Kosmetik Masser“. Dinas Lieblingsläden, stellte Ana fest, nachdem sie die Namen der beiden Marker mühevoll entziffert hatte. Zwar konnte sie lesen, gut und auch flüssig, aber unbekannte Wörter bereiteten ihr noch immer ein wenig Schwierigkeiten und außerdem waren die Buchstaben von so weit hinten nicht gerade gut zu erkennen. Von der Stadt strahlenförmig ausgehend waren rote Linien gezeichnet, um die Stadt herum rote Kreise, über Straßen, Felder, den Wald. Der Fluss war rot umrandet und einige Flächen zwischen Linien und Kreisen waren rot schraffiert.

Ana hatte das ausführlich mit Mr Bie besprochen.
„Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Es tut mir Leid, dass Dina nicht mehr da ist. Aber es tut mir hier nicht so richtig weh“, sagte sie und piekste mit dem Zeigefinger in die Stelle, an der sie ihr Herz vermutete. „Natürlich wünsche ich mir, dass sie wieder zurückkommt. Dass die Dinge wieder normal sind. Dass Papa wieder mehr lächelt und Mama nicht mehr so beschäftigt ist. Aber … und wehe, du sagst das weiter, …“, und sie senkte die Stimme und flüsterte den Rest des Satzes in Mr Bies Fell, „ … wenn sie nicht wieder zurückkommt, ist das für mich auch okay.“

Mutter erklärte gerade, dass sie gerne die schraffierten Flächen zuerst durchsuchen wollte. Dazu brauchte sie sieben Trupps, zwei Trupps sollten nur aus erwachsenen bestehen. Für die etwas heikleren Gebiete, fügte sie hinzu. Ana verstand nicht, was das bedeuten sollte. Da der Wald aber keines dieser etwas heikleren Gebiete zu sein schien, war es ihr schnell gleich. Bald hatten sich sieben, etwa gleich große Gruppen gebildet, die geduldig darauf warteten, von Margarete ihr Suchgebiet zugeteilt zu bekommen. Sobald sie einer Gruppe den Wald zugeteilt hatte, sprang Ana mit einem lauten Poltern von ihrem Stuhl, was ihr einen missbilligenden Blick von Mutter einbrachte, den sie geflissentlich ignorierte, und lief hinüber zu dem Waldtrupp. Die Zuteilung pausierte, vom Rednerpult drang aufgebrachtes Getuschel an Anas Ohr. Dann Stille.

„Du bist die Schwester, oder?“
Ana schwieg. Der Tonfall des Jungen gefiel ihr gar nicht.
„Tut mir leid, dass sie verschwunden ist. Ich hoffe, wir finden sie.“
Ana musterte ihn. Er war größer als sie, wesentlich kräftiger gebaut, was beides nicht einmal für Gleichaltrige besonders schwierig war. Ein bisschen älter, nicht viel. Ein Jahr vielleicht, höchstens zwei. Sein Haar war zerzaust, von einer seltsamen braunen Farbe, helle und dunkle Strähnen schienen sich abzuwechseln. Die Ohren standen ab, das Kinn war breit und ausgeprägt und die Nase etwas schief. Das Ungewöhnlichste waren seine Augen.
„Warum hast du ein blaues und ein braunes Auge?“, rutschte es ihr heraus. Im selben Moment bereute sie die Frage wieder. Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre und diese ständige Frage hätte hören müssen, denn nichts anderes konnte es sein als eine ständige Frage, wie ein ständiges Kompliment, Anas Wortwahl für offensichtliche Komplimente, sie hätte sehr unwirsch reagiert.

„Okay“, sagte das Mikrofon, „Gruppe fünf geht also in den Wald. Damit haben wir jetzt noch das Gebiet um den Fischweiher, die Felder hinter der Hauptstraße und das Gewerbegebiet.“
Eine Hand legte sich auf Anas Schulter, eine weitere streichelte ihr übers Haar. Ana bewegte sich ein bisschen und schmiegte sich fest an die Seite ihres Vaters.

Der Junge grinste, von einem abstehenden Ohr zum anderen.
„Ge-ne-tik“, sagte er.
„Was?“
„Vererbung.“
„Was bedeutet das?“, fragte Ana.
„Siehst du deiner Mama oder deinem Papa ähnlich?“
„Meiner Mama“, sagte Ana. „Ein bisschen“, schob sie nach, obwohl sie wusste, dass das übertrieben war. Sie war Margarete wie aus dem Gesicht geschnitten. Schön waren sie beide nicht, selbst die Bezeichnung „hübsch“ konnte nur mit äußerstem Wohlwollen und zwei zugedrückten Augen verwendet werden. Engstehende Augen, große Nasen, schmale Münder. Jedoch waren sie beide von einer herben und durch und durch ebenmäßigen Sprödheit, die zweifellos das Interesse des Betrachters zu wecken verstand.
„Das ist Genetik“, sagte der Junge. „Deine Schwester sieht aus wie dein Papa.“
Das stimmte.
„Wie heißt du?“
„Ben. Du?“
„Ana. Willst du neben mir suchen?“

„Meine Schwester ist auch verschwunden.“
Ana blieb stehen und sah vom Waldboden auf, den sie bisher während des Gehens mit den Augen abgesucht hatte. Ben packte sie an der Hand und zog sie weiter, um den Anschluss an den Suchtrupp nicht zu verlieren.
„Was redest du da?“
„Meine Schwester. Teresa. Vor vier Jahren. Sie kam eines Tages nicht mehr aus der Schule zurück. Wir haben sie gesucht, die ganze Gegend auf den Kopf gestellt, aber nie gefunden. Sie war damals dreizehn.“
Ana überlegte, konnte sich aber nicht erinnern.
„Hier?“
„Nein“, sagte Ben. „Wir haben bis vor kurzem woanders gewohnt.“
„Deswegen habe ich dich noch nie gesehen. Wo habt ihr gewohnt?“
Er nannte einen Ortsnamen, den Ana noch nie gehört hatte.
„Wo ist das?“
„Mit dem Auto etwa drei Stunden Fahrt von hier.“

Ana stellte Ben viele Fragen. Über Teresas Alter, ihre Hobbys, Freunde, wie ihre Eltern reagiert hatten. Den Alltag danach. Ob es überhaupt wieder so etwas wie einen Alltag gab.
Ben beantwortete bereitwillig alles, woran er sich noch entsann. Dass Teresa gerade elf geworden war, dass sie am liebsten ihre Nase in Bücher steckte und die Bücherei ihr Lieblingsaufenthaltsort war. Dass sie zwei Freundinnen hatte, Marta und Luise, die bei der Suche nicht sonderlich hilfreich waren, weil sie widersprüchliche Erinnerungen an Teresas letzten Schultag hatten. Dass seine Eltern sich erst nicht sonderlich viel dabei dachten, als Teresa nach der Schule nicht heimkam. Sie vergaß öfter die Zeit über einem Buch, und so hatten seine Eltern ihr Verschwinden erst am späten Abend bemerkt. Sie wechselten bald zu alltäglicheren Themen. Wo sie denn wohnte, wo er zur Schule und in welche Klasse er ging, wann sie hergezogen waren, ob er schon Freunde hatte, womit er seine Freizeit verbrachte.

Nach ein paar Stunden fanden sich die Suchtrupps wieder im Gemeindehaus ein. Viele waren auf feuchtem Grund unterwegs gewesen und brachten Matsch mit in den Saal. Anas Schuhe waren im Wald ebenfalls dreckig geworden und sie traute sich nicht mehr, sich auf den Stuhl vom Morgen zu stellen. Die Landfrauen hatten einen riesigen Topf Gulaschsuppe aufgetischt und verteilten diese bereits fleißig in Einmalschüsseln. Draußen war es zwar nicht übermäßig kalt, aber der Wind war ungemütlich und das stundenlange konzentrierte Stapfen durch Feld, Wald und Wiesen hatte die meisten Freiwilligen auskühlen lassen. Ana und Ben stellten sich in die Schlange für die Suppe.
„Du hast Wald im Haar“, sagte Ben, der hinter Ana stand, und zupfte ihr kleine bunte Blätter und Äste aus dem Zopf. Als er sie versehentlich an einer empfindlichen Stelle am Nacken berührte, wischte sie mit einer Drehbewegung und erhobenem Unterarm seine Hand so energisch beiseite, dass er schwankte und einen Ausfallschritt machen musste, um nicht umzukippen.
„Ach, entschuldige“, sagte Ana. „Das sollte nicht so schwungvoll werden, dass du umfällst. Es ist nur, du hast mich da an einer Stelle am Nacken berührt, da kriege ich sofort Gänsehaut, und im Reflex …“, sie hielt inne. Ben hörte ihr gar nicht zu. Er starrte mit hochgezogenen Augenbrauen zu einer Menschengruppe neben einem der Fenster. Man sieht ihm an, dass er überlegt, dachte Ana, bevor sie selbst hinüber sah. Nichts Ungewöhnliches.
„Was ist denn? Was hast du?“, fragte sie.
„Hey, aufrücken nicht vergessen!“, mahnte der Mann hinter ihnen.
Ana zog Ben ein Stück weiter, der immer noch ausdruckslos durch den Raum starrte.
„Den kenn ich“, sagte er.
„Wie meinst du?“
„Von früher. Der hat in meiner Heimatstadt gewohnt. Der ist kurz danach weggezogen.“
Ana wusste sofort, was er mit ‚danach‘ meinte. Sie drehte sich erneut in Richtung der Gruppe. Diese hatte inzwischen ein paar Positionen variiert, und so hatte sie nun einen deutlichen Blick auf den Mann, der ihr vorher hinter dem Rücken eines Anderen verborgen geblieben war.
Es war Herr Müller.

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Kommentare zu diesem Text


 Sanchina (06.12.17)
"Feierwehr" (1, Absatz, letzter Satz) ist gut! Gruß, Barbara

 keinB meinte dazu am 06.12.17:
Und so völlig unabsichtlich. :D

Danke und liebe Grüße :)
Graeculus (69)
(06.12.17)
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 keinB antwortete darauf am 06.12.17:
Danke. :)

 Lala (11.01.18)
Hättest Du die Geschichte linear aufgeschrieben, dann hätte es wahrscheinlich nicht funktioniert.

Die Figuren finde ich stimmig und echt. Sie reden auch nicht gestelzt.-Sehr schön sind auch die vielen Beschreibungen, die Du beherrschst. Das sind Punkte, die mir auffallen, weil ich das gerne auch könnte (besonders die Dialoge).

Nur an einer Stelle fand ich, dass die Reaktion von Ana und ihrem Vater auf die herausstechenden Merkmale Dinas zu sehr dem running gag geschuldet ist. Aber andererseits dachte ich dann beim weiterlesen, dass die beiden ja eigentlich auch unter einem ungeheuren Druck stehen müssten, der sich dann auch mal in einem Gag entladen kann?
Mir hat auch gefallen, dass Du Dinge weggelassen hast und nicht alles erzählt wird (es sei denn ich habe nicht aufgepasst). Aber nochmal zur Form: dass Du es nicht chronologisch erzählst ist klug und hat mich auch in einem Zug bis ans Ende gebracht aber für mein Gefühl wird im ersten Teil zu viel enthüllt. Nach 1. war ich mir sicher, dass einen Twist geben würde. Aber der kam am Ende dann doch nicht (oder ich habe den Clou komplett verpennt).

Wie ich finde ist die geschichte toll und sprachlich souverän geschrieben und lesenswert.


Edith: Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich was überlsehen, überlesen habe. Oder vergessen so wie Ana ...
Es gibt ja auch die Stelle wo Ana - von Wem? - darauf hingewiesen wird auf den Punkt zu kommen. Muss ich nochmal lesen.

Kommentar geändert am 11.01.2018 um 17:16 Uhr

 keinB schrieb daraufhin am 29.01.18:
Juhu Lala,

ich gestehe hier mal zwei Dinge.
1. Natürlich kommt noch ein Twist.
2. Ich hab keine Ahnung, welcher. ;)

Vielen Dank für deinen Kommentar - und das Lob. Da ich weiß, dass du eher ein kritischer Leser bist, freut es mich umso mehr.

Chronologisch würde für mich selbst beim Schreiben nicht funktionieren, da langweile ich mich selbst viel zu schnell. Beim Gag hab ich ebenfalls überlegt, ob's nicht zu viel ist, allerdings nicht lange, da der (Gesamt-)Text natürlich noch nicht ausgereift ist und nach Abschluss sowieso gründlicher Überarbeitung bedarf.

Ich glaube nicht, dass du was überlesen hast. Ich hab nicht alles erzählt. ;)

Liebe Grüße
KB

Zum Typo - das kommt davon, wenn man arroganterweise nicht noch mal Korrektur liest. *zähneknirsch*
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