Letztes Jahr im September - Ein bißchen roch es so wie alte Blumen

Anekdote zum Thema Andere Welten

von  Inlines

Doch. Ich gebe mir schon Mühe in meinem Single-Haushalt. Das Badezimmer putze ich jede Woche, jeden Samstag wische ich das Treppenhaus. Ich bin schon darauf bedacht alles gründlich sauber zu halten. Aber ja, wie reinlich sich mein Esszimmer präsentierte, obwohl beim Essen häufig etwas daneben ging, war schon ein wenig wunderlich.

Eines Abends wurde es zu auffällig. Ich hatte beim Vesper, das aus Knäckebrot, ein paar Käsescheiben und gesalzenen Radieschen bestand, mal wieder kräftig gekrümelt. Der Boden lag voll mit kleinen Bröckchen, die deutlich sichtbar waren, da sie in starkem Kontrast zum weißen Fließenboden standen. Der Anblick rief Ärger in mir hervor - ich hatte doch erst kürzlich gewischt. Aber mehr noch schämte ich mich für meine Grobmotorik, für die Unfähigkeit das Essen im Teller, oder zumindest auf dem Tisch, zu behalten. Die Krümel wollte ich daher umgehend beseitigen, gleich nach dem Essen sollte es geschehen, wurde dann aber dadurch etwas verzögert, dass ein dringendes Geschäft keinen Aufschub erlaubte.

Zurück vom WC machte ich mich gleich ans Werk: Ich nahm den Besen aus dem Schrank und setzte gerade zum Kehren an, als ich wie vom Donner gerührt erschrak - Die ganzen Krümmel waren weg, der Boden blitzeblank, und auch ein kleiner Rest Radieschen, die 100%ig vorher noch im Teller gelegen hatten, waren verschwunden. Was ging hier vor sich? Waren das schon die ersten Anzeichen? Hatte mein Chef mit der Aussage recht, dass ich immer vergesslicher werden würde, und Angelika, die Azubine, für die ganzen Fehler nichts konnte?

Irgendwie konnte ich die Situation nicht recht fassen und musste etwas tun, um mir Klarheit zu verschaffen. Verwirrt schaute ich genauer unter dem Tisch nach. Erst hörte, dann schnüffelte ich - und tatsächlich, da war ein komischer Geruch. So als ob jemand gepubst hätte. Der Verursacher konnte aber nicht ich selbst sein, da ich ja einige Minuten weg gewesen war. Und so lange brauchten diese Gerüche ja auch nicht, um sich zu verziehen.

"Vielleicht hat sich eine Katze oder ein Hund in meine Wohnung geschlichen", überlegte ich. "Ich war doch vorher unten, um den Müll rauszubringen, und hab noch eine Weile mit Frau Meyer tratschen müssen. Ja, meine Wohnungstür wird die ganze Zeit offen gestanden haben!" - Ich überprüfte diese Vermutung, und sah in allen Ecken meiner Dachgeschoss-Wohnung nach. Sogar Möbel verrückte ich, um besser dahinter schauen zu können, doch nirgends ergab sich ein Hinweis auf ein Tier. Nirgends lagen Katzen- oder Hundehaare, man hörte auch kein Miauen oder Bellen, und vor allem waren diese Tiere keinesfalls so klein, dass sie sich in einem Schlupfwinkel hätten unauffindbar einnisten können. Ich kam dem Mysterium einfach nicht auf den Grund, und der einzige Erfolg der Suche war, dass ich meinen verschollenen Personalausweis fand, der hinter einem Wandschrank lag, und den eine kleine Spinne eingewoben hatte.

Was war hier los? Ich setzte mich wieder an den Esstisch, nahm meine Brille ab und reinigte sie nachdenklich. Ich hielt sie wie immer noch oben, in Richtung des Deckenlichtes, um die schmutzigen Stellen besser sehen zu können. Gedanken darüber, was ein Kammerjägers verlangen könnte, gingen mir durch den Kopf, als ich den Futterdieb plötzlich sah, da die Brille für einen Moment den richtigen Abstand zu meinen Augen hatte. Es war fast nicht zu glauben! Ein kleines Männchen hockte da im Gestänge, nicht weit von der Glühbirne weg, so dass die Hitze ihm ganz schön zusetzen musste. War es ein Männchen? Moment. Nein - ich stand auf und ging etwas näher heran - tatsächlich, es war eine kleine Frau! Eine Frau von etwa 10 cm Größe, die ein Miniaturkleid und einen ... Sommerhut trug, und deren Hautfarbe orange war. Bloß ihre Backen schienen rötlich zu sein.

Ich patschte mir nun auf die selbigen, rieb mir mit den Zeigefingern die Augen. Zweifelte an meiner Wachheit und meiner geistigen Zurechnungsfähigkeit. Überlegte, ob mir jemand etwas in den Tee gemischt haben könnte. Doch was ich auch tat: das Bild hatte bestand.

Nun wollte ich die kleine Dame aus direkter Nähe betrachten. Da die Lampe jedoch sehr hoch angebracht war, brauchte ich eine Stehleiter, um wirklich nahe heranzukommen. Umgehend beschaffte ich diese. Und wie ich hochstieg, wurde immer deutlicher, dass meine Wahrnehmung der Realität entsprach und ich mir nichts davon eingebildet hatte. Das Wesen war echt, und auf der letzten Stufen mir so nah, dass ich es sogar berühren konnte. Von der Neugier getrieben streckte ich meine Hand aus. Ganz langsam, um nicht zu erschrecken, und doch ging dann alles ganz schnell: Aus dem Nichts wurde ich in den Finger gebissen, ziemlich tief, dass es richtig weh tat und sofort Blut aus der Wunde strömte. Und bevor ich weiter reagieren konnte, spannte das kleine Wesen schon die Flügel auf und flog mit einem Geräusch, dass an ein Libelle erinnerte, ohne Umweg zum gekippten Fenster. Dort presste es sich, etwas im Vorhang verheddert, in die schmale Öffnung, um nur wenige Sekunden später, unter Aufbringung großer Kraft, dadurch in die Freiheit zu entkommen. Vielleicht täusche ich mich, aber im Moment der größten Anstrengung meine ich ein leises Quieken wahrgenommen zu haben.

Ich stürzte natürlich sofort hinterher, fiel fast von der scheppernden Leiter, doch mehr als ein flinker Punkt in der Ferne war vom Fenster aus schon nicht mehr zu sehen. Das Wesen war fort, und würde fort bleiben - das wußte ich instinktiv. Alles, was es hinterließ, war eine rundliche Narbe auf meiner Fingerkuppe. Alles, was mir blieb, war die Erinnerung an die Begegnung. Die ich jedoch mit niemandem teilen konnte, aus Angst, als wirr im Kopf zu gelten. Die ich einzig hiermit niederschrieb.


Anmerkung von Inlines:

Nicht weitersagen!!!

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