Relativ

Text zum Thema Täuschung

von  Soshura

An einem Morgen beschloß ein Wissenschaftler, nennen wir ihn einfach Herr Wasweißich, einfach einmal nichts zu tun. Das könnte natürlich damit im Zusammenhang gestanden haben, dass er einfach nicht wußte, was er tun sollte. Es war übrigens ein schöner Sonntag. Doch das spielte eigentlich gar keine Rolle, weil nämlich, wenn es vielleicht wirklich nichts zu tun gibt, oder zumindest einer diesen Eindruck hat, dann muss er auch keine Rolle spielen, um das, was zu tun wäre, möglichst effizient durchzuführen. Das ist der Unterschied, hinter dem sich übrigens auch die Freiheit vergnügt, also dann, wenn sie gerade mal nichts zu tun hat. Doch das tut nun wirklich nichts zur Sache.

Und was war noch gleich die Sache? Genau, die Unwissenheit des Herrn Wasweißich, aus der heraus die wissenschaftlich nicht sehr fundierte Geisteshaltung abgeleitet wurde, nichts zu tun. Beziehungsweise, nichts, was mit irgendeiner Sache zu tun haben könnte. So etwas gelingt nur höchst selten, manche nennen es sogar eine Kunst, denn stellen sie sich vor, sie tun etwas, was sie nicht wirklich tun und was in keinem, aber auch gar keinem Zusammenhang mit anderen zukünftigen Dingen steht. Nein, das ist nicht einfach nur Passivität, die vielleicht aus irgendwelchen niederen Beweggründen versucht, die natürliche Faulheit im Ballkleid des Nichtstuns auszustaffieren. Das ist die pure Gedankenlosigkeit, es fehlt also das aufmerksame, das achtsame Moment der Konzentration, ohne dass die Achtsamkeit selbst fehlen würde. Denn Herr Wasweißich beobachtete sich selbst höchst wissentlich, was allerdings auch das Einzige zu sein schien, das er wußte.

Wie bei Wissenschaftlern seines Schlages üblich, lag vor ihm auf dem Schreibtisch ein Blatt kariertes Papier. Kleine Kästchen. In der Hand hielt er einen Stift und kritzelte damit Quadrate auf das Blatt. Ob das für Wissenschaftler im allgemeinen üblich ist, weiß ich nicht, für Herrn Wasweißich jedoch war dies eine sehr entspannte und gedankenlose Nichttätigkeit. So malte Herr Wasweißich Kästchen, und wie er plötzlich bemerkte, konnte er die genaue Mitte einer Seitenkante eines der gezeichneten Quadrate einfach bestimmen, indem er, statt nur eines, vier der Quadrate mit seinem schwarzen Filzstift umrandete. Darüber machte er sich allerdings keine Gedanken, sondern zeichnete stattdessen Verbindungslinien zwischen dem soeben gefundenen Mittelpunkt einer beliebigen Seitenkante hin zu den beiden gegenüberliegenden Ecken. Das mittlere der dabei entstandenen drei Dreiecke malte er dann einfach so aus. Schwarz eben. Nicht weil das besonders gut auf dem weißen Blatt sichtbar war, sondern weil das der einzige Stift war, den Herr Wasweißich gerade zur Hand hatte.

Plötzlich kamen doch Gedanken. Nein, nicht mir, sondern unserem Wissenschaftler. Er überlegte nämlich, ob die schwarze oder die beiden weißen Flächen größer wären. So begann er aufzuhören, nichts zu tun. Stattdessen malte er einige Zahlen auf, und auch einige Variablen, gedachte im Stillen eines Herrn Pythagoras, und am Ende lächelte er triumphierend. Obwohl es auf den ersten Blick schien, als wäre das große, schwarze Dreieck im Vorteil, ergab die Mathematik, dass die beiden weißen und die schwarze Fläche genau gleichgroß waren. Das war ja mal eine Sache!

Triumphierend schnitt er das kleine Quadrat mit dem großen schwarzen Dreieck und den beiden weißen aus. Er hatte sich überlegt, dass er einem Kollegen genau diese Frage stellen wolle: "Sieh her! Hier ist ein Quadrat, das in schwarze und weiße Flächen unterteilt ist. Welche Farbe nimmt die größere Fläche ein?" Ha! Der Kollege würde rechnen müssen, wöllte er die richtige Antwort geben, denn gefühlt schien es schon die schwarze zu sein. So wollte er der Überlegenheit der mathematischen Sprache in der Wissenschaft Genüge tun, er wollte zeigen, dass nur diese den unverfänglichen Blick hat. Den ungetrübten Blick auf die Wahrheit. Und es kam ihm die Idee, noch ein zweites Quadrat auszuschneiden, welches er ebenso geteilt hatte, wie das erste. Der einzige Unterschied war, dass er diesmal die beiden äußeren Dreiecke schwarz ausmalte. Das sollte den Kollegen vollends verwirren. Schließlich ging es hier um eine wissenschaftliche Sache, und Wissenschaft, also, wenn sie ernsthaft betrieben wird, ist stets verwirrend. Das ist nun einmal so.

Doch dann kamen ihm Zweifel. Erst ganz kleine: "Was, wenn der Kollege das schon kennt?" Natürlich dachte Herr Wasweißich, dass er genau diesen Effekt soeben entdeckt hatte, doch ganz überzeugt war er nicht. Und außerdem macht der adäquate Selbstzweifel den guten Wissenschaftler aus. Nichts ist absolut. Doch Herr Wasweißich zweifelte auch daran. Wie er das machte, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob dies sinnvoll war. Aber er tat es, was jedoch nicht zu verwechseln ist mit Nichtstun, da jeder Zweifel ebenso mit Gedanken einhergeht, wie es der Zustand des Nichtstuns eben nicht tut.

So schwankte Herr Wasweißich zwischen der Überzeugung, dass es gelingen müsse, und der Angst, dass es das eben nicht tut. In diesem Zustand des Grübelns, in der Herr Wasweißich zwar äußerlich nichts tat, innerlich jedoch grübelnd sich an jedem Strohalm einer vermeintlichen Erkenntnis versuchte, auf einen denkbaren Sockel der sicheren Überzeugung zu hieven, kam ihm ein Gedanke. Das passiert manchmal beim Grübeln und wird von Außenstehenden oft mit dem Gedankenblitz verwechselt, der sich im Nichtstun manchmal manifestiert. Eigentlich bringt er den Zustand des Nichtstuns um, er erschießt ihn sozusagen. Deshalb fühlen sich diejeneigen, denen das passiert auch manchmal berührt, oder gar betroffen. Was aber Herrn Wasweißich nicht passierte. Er hatte ja keinen eigentlichen Gedankenblitz, denn er tat ja nicht Nichts. Was übrigens seine eigene Schuld war, doch das wußte er noch nicht. Neben einigen anderen Dingen.

"Was wäre, wenn ich zuerst einmal einen anderen Menschen frage?", fragte er sich. "Keinen Wissenschaftler, sondern jemanden, der von solchen ernsten Dingen, wie Sinnestäuschungen oder gar Mathematik, keine Ahnung hatte. Ein Kind? Ja, ein Kind!" Herr Wasweißich jubilierte innerlich, äußerlich schien er noch immer nichts zu tun. Dann erhob er sich schnell und rief seine Tochter. Die war genau die Richtige dafür. Madeline, sieben Jahre, und gerade mal in der zweiten Klasse, wollte er zuerst fragen.

Als sie vor ihm stand, zeigte er ihr zuerst das Quadrat mit dem großen schwarzen Dreieck: "Sie her, meine liebe Madeline! Hier ist ein Quadrat, das in schwarze und weiße Flächen unterteilt ist. Welche Farbe nimmt die größere Fläche ein?", fragte er ein ganz klein wenig hinterlistig seine Tochter. "Keine!", antwortete jene wie aus der Pistole geschossen. Zugegeben, das verblüffte Herrn Wasweißich, und nicht nur ein wenig, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er zeigte ihr das zweite Quadrat, und stellte seine Frage nochmals: "Welche Farbe: schwarz oder weiß, nimmt die größere Fläche ein?" - "Keine!", antwortete Madeline ebenso schnell, wie das vorige Mal. Doch diesmal hatte es einen leicht gelangweilten Unterton. Das gab es doch nicht! Alles richtig, dazu noch leicht gelangweilt! Und die Tatsache, dass Herrn Wasweißichs Erwartungen in keinster Weise erfüllt wurden! Und das von einer siebenjährigen "Irgendwannvielleichtmalfrau", die doch nun wirklich keine Ahnung von Wissenschaft haben konnte! Darauf hatte Herr Wasweißnicht strikt geachtet, um sie nicht zu früh zu verderben, wie er gern zu seinen Freunden sagte. Unweigerlich fragte sich Herr Wasweißnicht für den Sekundenbruchteil eines Nanomomentes, wozu er Madeline explizit dumm gehalten hatte. Das war mehr, als er vertragen konnte.

"Woher weißt Du das?", entfuhr es Herrn Wasweißich. Madeline lächelte und sagte: "Aber Vater, das ist doch ganz logisch. Schwarz und weiß sind eben keine Farben."

Wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum den gleichen erstaunten Gesichtsausdruck innehat, ist das ein Zeichen von Nichtstun. Das verwechseln Außenstehende auch sehr oft. Auch wenn dies nichts, aber auch gar nichts zur Sache tut. Welche auch immer.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (18.12.18)
Guten Abend.

" Verbingslinien" ? Was ist das? Ich empfehle, das RS-Programm über den Text drüberlaufen zu lassen, bevor man ihn hier online stellt. Das Programm hätte sicherlich auf " Verbingslinien" hingewiesen. Da bin ich mir sicher. Nicht wahr?

"Madeline": klingt nach Eltern, die ihren Sohn Kevin nennen und seine Schwester Madeleine nennen wollen, aber dann natürlich an der korrekten Schreibweise scheitern. So mein Eindruck.

 Soshura meinte dazu am 18.12.18:
Hallo Dieter, hab's korrigiert, linientreu.
Piroschka (55)
(18.12.18)
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 Soshura antwortete darauf am 18.12.18:
Hallo Piroschka,

schön, dass Dir der Text gefallen hat. :-D
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