An der Grenze

Geschichte

von  Schachtelsatzverfasserin

An der Grenze

„A‘Nna, A‘Nna…….“ 
Die Falkenfrau breitet ihre Flügel aus und fliegt hoch, immer höher, folgt dem Ruf, ohne zu wissen, wer sie ruft. Sie weiß auch nicht, wohin es sie zieht, sie weiß nur, dass sie dem Ruf folgen muss.
Jetzt kommt der Ruf erneut "A'Nna, A'Na..." Er kommt von unten, zieht sie hinunter, dorthin, wo sie widerstreitende Stimmen hört. Der Schmerz in ihrem Kopf wird immer unerträglicher. Sie kann den Kopf nicht bewegen, nicht sehen, wer die Frau und der Mann sind, deren Gespräch sie hört. Die Falkenfrau nimmt nichts von ihrer Umgebung wahr, es existieren für sie nur tiefe undurchdringliche Dunkelheit, der Schmerz in ihrem Kopf und die Stimmen.
„Nein! Das kann nicht sein, da muss man doch etwas machen. Bitte, Miclanthecutli, lass es mich versuchen!“  Die Frauenstimme klingt flehend.
„Bist du sicher, dass es in ihrem Interesse wäre?“ antwortet eine Männerstimme, der Tonfall ist ruhig, der Sprecher ist sicher, dass man ihm zuhört. „Ich habe sie lange beobachtet. Die Menschen wollen nicht abhängig sein, nicht von ihresgleichen und nicht von uns. Nein, Temazcaltec. Wir sollen uns nicht einmischen. Kannst Du mit Bestimmtheit sagen, welche Folgen es für sie hat, wenn Du Deine Kräfte einsetzt? Ich weiß, dass Deine Fähigkeiten als Heilerin überragend sind. Aber kann man einfach etwas Schlechtes aus dem Kopf einer lebenden Kreatur herausschneiden? Ist das Wesen, ist der Mensch danach wieder völlig intakt? Oder bleibt er dann für den Rest seines Lebens für sich und andere eine Last?“
„ Und wenn schon, ist das nicht das kleinere Übel, Miclanthecutli? Besser ein Leben mit Einschränkungen als der Tod, oder? Denk doch auch mal an ihre Familie, die Kinder, von denen sie geliebt, die Kindeskinder, von denen sie verehrt wird. Wie werden die sich fühlen, wenn sie tot ist?“
Die Falkenfrau hört zu, versucht zu verstehen. „Kiiiir“ und noch einmal, jetzt lauter „Kiiiir“, sie will mitreden, will etwas sagen, aber keiner hört sie, es kommt keine Antwort. Da, plötzlich, explodiert der Schmerz hinter ihren Augen, sie hört nichts mehr, sie fühlt nichts mehr. Ihr Flug ist zu Ende.

Die Stille im Raum dröhnt in ihren Ohren. Sie versucht die Augen zu öffnen. Ganz langsam wird es hell. „Warum kann ich nichts erkennen, was ist das für ein Schleier auf meinem Gesicht?“ Ihr Kopf lässt sich nicht drehen, nicht heben, Anna will die Hand heben, versuchen, den störenden Stoff vom Gesicht zu ziehen, da spürt sie, dass jemand ihre Hand festhält. „Nein, bitte nicht anfassen, Anna, der Verband ist wichtig, Wir können ihn erst morgen entfernen. Solange müssen wir auch Ihren Kopf fixieren.“ Eine dunkle Männerstimme, beschwichtigend, aber auch ein wenig angespannt. Und irgendwie seltsam vertraut. „Wer Sind Sie? Und vor allem, wo bin ich, was ist passiert?“ Annas Fragen kommen leise, undeutlich, sie hat große Probleme zu sprechen. Wieder die sanfte Stimme. „Sie sind immer noch im Krankenhaus. Mein Name ist McLantheculh, ich bin der Oberarzt. Ich gebe Ihnen jetzt noch ein Schmerzmittel, dann schlafen Sie und morgen früh unterhalten wir uns weiter.“ Anna gleitet wieder zurück in die dunkle, fühllose Umarmung des Schlafes.
„Anna, Anna….“ Eine Hand streicht zart über ihren Arm, eine angenehme Berührung, Anna schlägt die Augen auf. Sie kann sehen, der Schleier ist von ihrem Gesicht genommen worden. Eine Frau lächelt sie an. „Einen wunderschönen guten Morgen, Anna. Ich bin Ines Gonzales, „Frau Doktor Maya“, wie meine Kollegen mich rufen. Ich habe Sie operiert, der Tumor ist fort, und zum Ausgleich habe ich Ihnen ein Stück neuen Knochen in die Siebbeinhöhle eingesetzt. Sie werden in spätestens einem Vierteljahr wieder ein ganz normales Leben führen können. Vielleicht laden Sie mich zu Ihrem 65. Geburtstag ein und wir tanzen? Das Leben ist doch so schön.“
Auch ihre Stimme klingt vertraut, als hätte sich Anna schon oft mit ihr unterhalten. Aber die kleine schwarzhaarige Frau mit dem runden fröhlichen Gesicht, das die südamerikanische Herkunft deutlich zeigt, hat sie vorher noch nie gesehen.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (12.08.20)
Gut nachvollziehbare bildliche Darstellung der Problematik einer Tumor-Operation.
Sätzer (77)
(12.08.20)
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Stelzie (55)
(12.08.20)
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 AvaLiam (16.08.20)
Ich bin dir gern Satz für Satz gefolgt.
Allerdings am Anfang - nach dem ersten Absatz - man war noch im Aufstreben des Fluges und findet sich nur einen halben Gedanken weiter im "Hinunter". Das passt für mich nicht. Da fehlt ein kleiner Einschub.
Etwas, was sie stört, beim weiter Aufsteigen und "plausibel" macht, wieso jetzt auf einmal hinunter.
Ja, wegen den Stimmen. Das folgt aber erst. Insofern ist es (für mich) verwirrend und lässt mich direkt stocken, was sehr schade ist, da ich den Flug der Frau auch als wichtiges Element empfinde.

Ansonsten gefällt mir der Umgang, der Blickwinkel sehr gut.

Liebe Grüße - Ava

 Schachtelsatzverfasserin meinte dazu am 17.08.20:
Danke für die lieben Worte. Ich werde darüber nachdenken und wenn mir was dazu einfällt, eine Überarbeitung einstellen.

LG
Schachtelsatzverfasserin

P.S: Habs mal versucht, ist es jetzt plausibler?

Antwort geändert am 17.08.2020 um 19:14 Uhr
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