Mitochondrische Aphorismen

Betrachtung zum Thema Kosmos

von  Bergmann

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Laufe isch mei Lebe

Dieter Baumann

1  Dasein ist Laufen zum Tode.

2  Je cours, donc je suis.

3  Steady State - der Existentialzustand, wo Lauf und Läufer einander transzendieren - ist die läuferisch endgültige Umstülpung des Zusammenbruchs zum Sieg: Wie der vom Kopf auf die Füße gestellte Orgasmus zum Tode hin.

4  Vielleicht ist ja Laufen so etwas wie das Gebet der Beine.

5  Stehenbleiben ist bei genauer Betrachtung die Fortsetzung des Laufs mit anderen Mitteln.

6  Sprint ist eigentlich unvollendetes Laufen, ist laufen wollen und nicht Laufen als Lauf: dem ersten Schluck ähnlich, der in die durstige Kehle läuft und auf halbem Wege zum Magen verzischt.

7  Der Spagatschritt ist die finale Anstrengung des Läufers, der das Laufmaximum, indem er es ins Unendliche zu extrapolieren versucht, gleichsam einfriert. Der Spagat ist der finale Todesschritt des Läufers.

8  Die gestaltende Wirkung des Laufens - : Vor den Schritten des Läufers gestaltet sich Landschaft, die sich hinter dem Läufer sowohl ihm als auch dem Nichtläufer wieder verschließt.

9  Veni vidi cucurri.

10  Im Steady State erfüllt sich ein Überlaufen suizidaler Sehnsucht; wie wenn sich der Läufer sagte: Ich streife meinen Körper ab (ich werfe meine Beine weg), um leichter zu laufen.

11  Laufen heißt, die Vertikale ins Transzendente horizontieren.

12  Im Lauf zwischen der Hitze von außen und innen könnte ein dergestalt auf sich Geworfener sagen: Jetzt reite ich mich selbst.

13  Der Läufer ist immer Jäger und Gejagter zugleich, und so sehr er sich auch bemüht, in diesem Zwiespalt nicht auseinanderzufallen, rennt er sich doch stets hoffnungslos hinterher wie einer, der seinen Schatten überspringen will.

14  Der Weg ist die Falle, die wir uns selbst erlaufen.

15  Das Ganze des Laufs ist mehr als die Summe seiner Einzelschritte.

16  Ob die mit laufenden Beinen abstürzende Comic-Figur überhaupt noch läuft, während sie fällt, ist eine oft gestellte Frage.

17  Laufen ist ja eigentlich iteratives Fliegenwollen: In dem Moment nämlich, wo der Körper des Läufers kaum sichtbar gänzlich abhebt.

18  Einmal im Jahr treffen sich jeweils am selben Tag zur selben Stunde zwei Läufer - nach langem wie kurzem Gespräch verabschieden sie sich mit den Worten: Ich werde dich nie verstehen.

19  Das absolut leergelaufene Hirn des Läufers im Moment der anaeroben Entkörperung ist die Apotheose des letzten Schrittes.

20  Nie läuft ein Läufer von einem Ort zum anderen, sondern - auf der Stelle laufend - produziert er eine Metamorphose des Ortes.

21  Wir laufen immer: Auch wenn wir denken, Anker geworfen zu haben mit aller Macht, wir können den Augenblick doch nicht festhalten. Die Zeit schleppt uns von unserem Ankerplatz fort und macht uns Beine.

22  Der Fisch fliegt, der Vogel schwimmt, der Mensch läuft - selbst dann wenn er schwimmt und fliegt. (Emil Zatopek nach René Magritte)

23  Les coureurs sont condamnés à êtres libres - wir sind dazu verdammt uns freizulaufen.

24  Zu Form geronnenes Laufen ist Warten.

25  Warten ist die Verinnerlichung der läuferischen Entäußerung ins richtungslose Vorwärts.

26  Immer bin ich Läufer und Mitläufer meiner selbst: Wir laufen zusammen trotz unserer Absprache unweigerlich in die Irre, wo wir uns schweigend verstehen. Was aber geschieht, wenn ich die Laufrichtung ändere?

27  Ein Lauf vollendet sich, wenn der Fahrtwind den Läufer dergestalt abkühlt, dass er im Ziel erfriert.

28  Jeder Lauf gleicht einem Möbiusband - wir glauben fortzulaufen, fort vom Anfang, vorwärts zum Ende, aber wir laufen von Anfang an zum Anfang, der das Ende ist.

29  Wir sind tragische Glücksmaschinen, denn im tautologischen Wechsel von Agonist und Antagonist taumelt der Läufer im Unsterblichkeitswahn der Muskel: Sinnlos setzen Sinn die Endorphine, gegen die letzte Agonie zucken matt die Mitochondrien ihre letzte glücklose C6H12O6-Brennspur zum sicheren toten Punkt.

30  Im toten Punkt, wo sich die Paralyse der letzten Laktate ereignet, schaut der im Doppelspagat erstarrte Läufer zurück auf die erloschene Lunte seiner phosphoreszierenden Implosion in den Stillstand.

31  Die Spannung der langen Schritte auf stygische Kurzweil führt eigentlich immer zur grammatischen Grenze einer ästhetisch verstandenen Moralchemie.


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Kommentare zu diesem Text


 idioma (16.09.20)
Das hat natürlich höchst nachdenkliche Folgen,
wenn ein kluger Kopf zum Läufer mutiert :
trotz aller Beine wird er seinen Kopf nicht los.......

Nr. 32 scheint blanker Atemlosigkeit anheimgefallen,
nach deren Abklingen hier Platz wäre für den AntiCoronaLäufer, der uns Schwächlingen laufend demonstriert:
MEINE Lungen sind so gestählt,
dass do drin koi Virus iberläbt !

idi

 Bergmann meinte dazu am 16.09.20:
Schön geflachst gegen die Eitlen auf unseren Wegen.
Uli

 AchterZwerg (16.09.20)
Unterschreibe ich sofort.
Der kraftvoll-anmutige Läufer gilt nicht nur als Symbol der Befreiung an sich, sondern befreit sich ebenso selbst. -
Kaum jemals habe ich größere Liebe zu meinen Mitmenschen empfunden als beim kurzen Treffen im Gebirge, dem Blickkontakt und vielleicht einem leichten Handschlag (als man dies noch durfte).

Numero 33 find ich ein wenig dröge. Aber sonst: Alle Daumen hoch.

Der8.

 Bergmann antwortete darauf am 16.09.20:
Gut. Ich nehme 33 raus, ist auch allzu gekünstelt.
Uli

 AZU20 (16.09.20)
Nach Lesen des prächtigern Textes habe ich das Haus verlassen ...
und laufe ein wenig. LG

 Bergmann schrieb daraufhin am 16.09.20:
Na also: Literatur bewirkt doch einiges

 minze (23.10.20)
Macht Freude zu lesen. /Sont condamnés d'être/ muss es heißen.

Bisous

Kommentar geändert am 23.10.2020 um 20:11 Uhr
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