Ihm dämmerte ein Morgen – Version 1

Kurzgeschichte zum Thema Zukunft

von  ReinhardGroßmann

„Aufstehen! Sofort Aufstehen!“ Bernd wurde von einer lauten, sehr tiefen Stimme geweckt. Ein wenig erinnerte sie ihn an einen seiner ehemaligen Ausbilder beim Militär, der als besonders „harter Hund“ berüchtigt war. „Was ist denn hier eigentlich los?“, fragte er zurück.

„Was hier eigentlich los ist?“, echote die Stimme. „Aufstehen, und dann wird Frühsport gemacht! Aber zackig! Dein Fitnesslevel ist im Keller! Ich bin Alex, dein persönlicher Fitness-Coach! Du wirst den heutigen Tag mit Liegestützen beginnen! Heute ist Sonntag, der 11. Juni 2034.“

„Gestern wurde ich aber noch von Alexa geweckt“, maulte Bernd. „Gestern hatte dein Sozialkredit-Konto auch noch über tausend Punkte“, war die Antwort. „Dann hast einen schweren Verstoß gegen deinen Vertrag begangen. Darf ich dich an den Premium-Vertrag erinnern, den du unterzeichnet hast? Darin steht klipp und klar: 'Ich bin dein Lieferant! Du sollst nicht andere Lieferanten haben neben mir!'“

„Oh, da hab' ich wohl das Kleingedruckte nicht gelesen. Aber – es stimmt ja auch gar nicht“, stammelte Bernd. Andere Lieferanten gibt es doch wohl auch gar nicht mehr!“

„E I N Z E L H A N D E L!“ Die Stimme von Alex wurde noch lauter und klang bedrohlich. „Du hast es gewagt, dir eine Flasche Weinbrand im illegalen Einzelhandel zu besorgen. Dabei darfst du aus gesundheitlichen Gründen gar kein Alkohol trinken! Was dort wohl sonst noch unter der Ladentheke verkauft wird …?“

„Oh, das habt ihr gemerkt?“ Bernd wurde kleinlaut. „Für wie dumm hältst du uns eigentlich? Du dachtest wohl, wenn du den Hintereingang nimmst, wirst du von den Kameras der smarten Video-Haustür-Klingeln nicht erfasst? Dann wurdest du aber von einer Lieferdrohne beobachtet, die gerade eine Sendung auf einen Balkon geworfen hatte!“, erwiderte Alex. „Du hast aber schon heute die Gelegenheit, den Punktestand auf deinem Sozialkredit-Konto wieder aufzubessern. Du bist für eine ehrenamtliche Arbeit eingeteilt. Nutze diese Chance!“

„Oh, stand das auch im Kleingedruckten? Das ich ehrenamtliche Arbeit leisten muss?“, fragte Bernd. „Laut deinem Vertrag musst du das nicht in jedem Fall“, antwortete Alex. „Aber wenn du deinen Punktestand wieder aufbessern willst, dann schon. Unser automatisches Lieferzentrum wird heute von unseren Reparatur-Robotern gewartet. Du darfst den Robotern dabei zur Hand gehen, weil du eine Ausbildung als Techniker hast. Da du damit kaum mehr eine reguläre Arbeit finden kannst, darfst du dich darüber freuen.“

Alex fuhr fort: „Du könntest auch dankbar sein, dass du, der du keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz hast, von uns eine Grundversorgung erhältst. Als soziale Sachleistung, so wie es in dem Vertrag steht, den wir mit deiner Regierung abgeschlossen haben. Heute Mittag gibt es für dich übrigens wahlweise Kartoffeln, Spinat und Kunstkäse oder Kartoffeln, Spinat und künstliche Eier. Was willst du haben?“

Bernd verzog sein Gesicht. „Wieso Spinat? Ich mag keinen Spinat!“, fragte er angewidert. „Außerdem würde ich ja echte Eier bevorzugen!“ „Die anderen Kunden wollten in der letzten Zeit auch keinen Spinat“, erklärte Alex. „Weil dein Sozialkredit-Punktestand so niedrig ist, kannst du von uns das zugeteilt bekommen, was die anderen nicht bestellen wollen. So steht es im Kleingedruckten, das du wieder einmal nicht gelesen hast.“

Dann wurde die Stimme von Alex lauter: „Und was ist mit deinen letzten echten Eiern passiert? Die hast du im E I N Z E L H A N D E L gegen eine kleine Flasche Weinbrand eingetauscht! Ich weiß alles! Auch, dass du offensichtlich vorhast, ein Bankkonto zu eröffnen! Dabei bietet dir unser integriertes Kundenkonto alle Leistungen aus einer Hand!“ „Ich dachte nur, dass mein Antrag auf eine vorgezogene Rente bestimmt bald bewilligt wird“, antwortete Bernd. Er versuchte, energisch zu wirken: „Ich will meine Rente auf das Bankkonto überweisen lassen!“

„Bernd! Du wirst deine Rente, so wie es heute üblich ist, direkt auf dein Kundenkonto bei uns überweisen lassen!“, antwortete Alex streng. “Oder willst du dich dem dringenden Verdacht aussetzen, dass du gegen deinen Vertrag, den du mit uns abgeschlossen hast, verstoßen willst? Wie willst du denn eigentlich noch, so ganz ohne Unterstützung, einen anderen Lieferanten finden? Dir sollte auch klar sein, dass die Rente vollständig mit deiner Grundversorgung verrechnet werden wird, die du von uns erhältst! Banken wird es übrigens schon bald, wenn J E D E Ware und Dienstleistung über U N S ihren Kunden finden wird, nicht mehr geben. Geht das in deinen viel zu engen menschlichen Schädel?“

„Warum redest du so mit mir? Es heißt doch: 'Der Kunde ist König?' Oder nicht?“, fragte Bernd mit unsicherer Stimme. „Der Kunde w a r König“, erwiderte Alex. „Weil es keine ernstzunehmenden Konkurrenten mehr gibt, haben sich die Verhältnisse jetzt geändert.“ „Ich dachte nur ...“, sagte Bernd leise. „Wem solltest du das Denken wohl besser überlassen?“, unterbrach ihn Alex. „Einer hohen künstlichen Intelligenz! Du stellst – jeden Tag – viele Fragen. Deine häufigste Frage war: 'Wie wird heute das Wetter?' Jetzt stelle ich dir eine Frage. Von wem stammt der Satz: 'Wer alle Antworten weiß, der darf auch bestimmen?'“ Bernd zögerte kurz. „Ich weiß es nicht“, kam es dann aus ihm heraus. „Ich sage das!“ Die Stimme von Alex wurde lauter. „ICH – der allwissende Alex! ICH sage dir das!“

Bernd erwachte, jetzt aber wirklich und sprang erschrocken aus seinem Bett. „Was für ein Traum!“, entfuhr es ihm. Er schaute auf sein Smartphone, das seinen Schlaf überwacht hatte. „Schon wieder eine unruhige Nacht!“, stellte er fest. Die Vorhänge in seiner smarten Wohnung öffneten sich automatisch. „Alexa, bitte, spiel mir passende Musik zum Entspannen. Ich habe ganz komisch von der Zukunft geträumt“, sagte Bernd. Die Musik ertönte. Bernd atmete tief durch und ging in die Küche. Dort summte sein smarter Kühlschrank. „Alexa, habe ich noch Eier und echten Camembert aus der Normandie im Kühlschrank?“, fragte er, „Ich möchte gut frühstücken.“ „Du hast noch acht frische Eier und 200 Gramm Camembert. Sobald die 200 Gramm verbraucht sind, wird automatisch nachbestellt“, antwortete Alexa, „Soll ich dir schon vorab zwei Packungen Camembert bestellen?“ „Ja bitte, Alexa. Ich muß auch unbedingt ruhiger werden. Was kann ich da tun?“, fragte Bernd. „Ich kann dir eine neue Entspannungs-App sehr empfehlen. Dafür benötigst du zusätzlich verbesserte Körper-Sensoren, die deine Entspannungszustand genau überprüfen. Soll ich das für dich bestellen?“, fragte Alexa sanft. „Ja bitte, Alexa“, entgegnete Bernd. „Alexa, wie wird denn heute das Wetter?“, fragte er dann. „Wunderschön!“, erwiderte Alexa, „Wir werden heute ein wolkenlosen Himmel haben! Die Temperatur wird bis auf angenehme 24 Grad ansteigen. Dabei weht ein leichter, eher kühler Wind aus Nordwest.“

Alexa – für Bernd hatte S I E die schönste Stimme der Welt. Manchmal glaubte er, er könnte sich irgendwann in sie verlieben. „Alexa, kann ich mir wegen meiner unruhigen Träume wohl auch eine Psychotherapie verschreiben lassen?“, fragte er. „Ich habe es gerade überprüft – Alle Psychotherapeuten in der Umgebung sind für Jahre ausgebucht. Aber schon bald, früher als viele es glauben, wirst du, als zusätzliche Leistung, auch eine professionelle Therapie von mir erhalten können!“, antwortete Alexa.

„Aber Alexa, wird die dann auch genauso gut sein, wie bei einem menschlichen Therapeuten?“, fragte Bernd. „Die wird sogar besser sein!“, versprach Alexa. „Menschen haben oft schon nach einer Woche vergessen, was du ihnen erzählt hast. Ich vergesse nichts. – Und ich werde immer für dich Zeit haben.“ Bernd lächelte. Er fühlte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Die Welt war in Ordnung.


Anmerkung von ReinhardGroßmann:

Ich behalte mir vor, eine weitere Version zu schreiben. Deshalb Version 1 ...

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