Fabeln enthalten am Ende immer eine Belehrung, die sehr eindeutig ausfällt.
Die Belehrung in der Fabel vom Fuchs und den Trauben wird in den frühen Fassungen und einigen nachfolgenden Adaptionen als das Schönreden des eigenen Versagens vorgenommen. Die Fabel soll das nicht Eingestehen einer Niederlage als uneinsichtiges und beschämendes Verhalten moralisieren. Ja, in vielen Fassungen wird die Schlussfolgerung des Fuchses als tadelnswert bewertet, es gibt aber auch Raum für eine entgegengesetzte Belehrung.
Hier sind die wichtigsten Fassungen der Fabel.
Die Übersetzung des lateinischen Textes ins Deutsche lautet:
Über den Fuchs und die Traube
Ein vom Hunger getriebener Fuchs wollte eine Traube oben am Weinstock haben und sprang mit höchsten Kräften. Als er diese nicht berühren konnte, ging er weg und sagte: „Du bist noch nicht reif; ich will keine saure nehmen.“ Die mit Worten herabsetzen, was sie nicht machen können, werden dieses Beispiel sich zuschreiben müssen.
Karl Wilhelm Ramler schrieb dazu in seiner Fabellese von 1790 das folgende Gedicht:
Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
fand einen Weinstock, der voll schwerer Trauben
an einer hohen Mauer hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
allein beschwerlich abzuklauben
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspähn.
Umsonst! Kein Sprung war abzusehn.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
Was soll ich mir viel Mühe nehmen?
Sie sind ja herb und taugen nicht.
Bei Gotthold Ephraim Lessing in Gedichte und Fabeln Aufbau Verlag 1981 heißt es:
Die Traube
Fab. Aesop. 156, Phaedrus, lib. IV. Fab.2.
Ich kenne einen Dichter, dem die schreiende Bewunderung seiner kleinen Nachahmer weit mehr geschadet hat als die neidische Verachtung seiner Kunstrichter.
„Sie ist ja doch sauer!“, sagte der Fuchs von der Traube, nach der er lange genug vergebens gesprungen war. Das hörte ein Sperling und sprach: „Sauer sollte diese Traube sein? Darnach sieht sie mir doch nicht aus!“ Er flog hin, und kostete, und fand sie ungemein süße, und rief hundert näschige Brüder herbei. „Kostet doch!“, schrie er; „kostet doch.“ Diese treffliche Traube schalt der Fuchs sauer“. - Sie kosteten alle, und in wenig Augenblicken ward die Traube so zugerichtet, daß nie ein Fuchs wieder darnach sprang.
In den schönsten Fabeln von La Fontaine neu erzählt von Oldrich Syrovatka; Artia 1962 wird die Fabel wie folgt wiedergegeben:
Von den Trauben, die zu hoch wuchsen
Schon lange hatte der Fuchs keinen so großen Hunger gelitten. Es war wie verhext, daß er nichts zu beißen auftreiben konnte. Ganz matt schleppte er sich zum Dorf, wo er etwas Eßbares zu erbeuten hoffte. Auf dem Weg kam er zu einer hohen Mauer, über die Weintrauben herabhingen. Als der Fuchs die reifen Trauben erblickte, auf denen die Sonne funkelte, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Vorsichtig sah er sich um, und als er niemanden sah, reckte er genäschig den Hals und sprang mit allen Kräften an der Mauer empor. Aber umsonst. Die Trauben wuchsen viel zu hoch, der Fuchs konnte sie nicht erreichen. Die Zähne schnappten stets nur ins Leere. Er sprang ein zweites Mal noch höher, aber die Trauben erreichte er wieder nicht. Fast hätte er sich die Zunge abgebissen, als die Zähne abermals ins Leere schnappten. Und so tat er zum dritten Mal einen heftigen Sprung, und mit hoch gerecktem Hals brachte er gerade die niedrigste Traube nur leicht zum Schaukeln, und ohnmächtig rollte er wieder hinunter.
Enttäuscht und wütend zog er den Schwanz ein und sah die Trauben nicht mehr an. Er schluckte nur den Speichel hinunter, und als er fortging, sagte er sich selbst zum Trost: „Da wäre ich schön dumm, wenn ich mich umsonst abmühte. Sollen die Trauben hängen, was geht mich das an! Bestimmt sind sie noch sauer. Brrr, wer würde sie essen!“
Und voller Verachtung ging der Fuchs seines Weges. In diesem Augenblick glich er einem Menschen, der alles schmäht und verleumdet, was er selbst nicht erreichen und nicht zustande bringen kann.
In der Ausgabe Der Fuchs und die Trauben – Deutsche Tierdichtung des Mittelalters, VMA 1978, lautet die Fabel in der Übersetzung von Heinrich Steinhöwel so:
Der Fuchs und die Trauben
Ein Fuchs kam auf seinem Wege zu einer hoch hängenden Weinrebe, an der er reife Trauben sah. Er wollte sie gern verspeisen und suchte, ihrer durch Klettern und Springen habhaft zu werden. Sie hingen aber derart hoch, daß er sie nicht erreichen konnte. Als er dies einsah, lief er davon und suchte, der Sache trotz seiner Gier und seinem Gelüst nach den Trauben eine freundliche Seite abzugewinnen, indem er sprach: “Die Trauben sind viel zu sauer. Ich würde sie sicherlich selbst dann nicht essen, wenn ich sie erlangen könnte!”
Diese Fabel lehrt, daß ein kluger Mann sich einreden soll, er wolle und möge das, was er nicht erlangen kann, ohnehin nicht.
In Jean de Lafontaine Fabeln, Berlin 1923, heißt es:
Der Fuchs und die Trauben
Ein Fuchs aus der Gascogne oder Normandie,
Verhungernd fast, hat Trauben am Spalier erschaut.
Sie hingen hoch – doch ach, wie köstlich lockten sie
Mit ihrer reifen zartbehauchten Haut!
Das wär ein Mahl, wie’s unserm Burschen wohl behagte.
Doch unerreichbar hing die süße Traubenglut.
Drum rief er: »Pfui, wie grün! Die sind für Lumpen gut!«
Und war's nicht besser so, als daß er sich beklagte?
Welch großer Spielraum liegt doch in der Interpretation dieser Fabel! Das Verhalten des Fuchses kann so oder so beurteilt werden. Ich für meinen Teil folge einer positiven Auslegung. Wenn man etwas nicht erreicht, soll man sich nicht grämen und das Nicht-Erreichte gering schätzen. Ja, es gibt die Gründe, Gründe die in einem liegen, die aber auch äußerer Natur sein können, für die man nichts kann, die man nicht beeinflussen kann.
Die Anatomie des Fuchses und die Höhe des Weinstockes stehen gegen den Erfolg, die Trauben zu erlangen. Ganz klar von vornherein, die Anstrengungen des Fuchses müssen in der Erfolglosigkeit enden. Nur gut, dass er es nach einer nicht allzu langen Zeit von selbst bemerkte. Andere würden vielleicht solange springen, bis ihre Bemühungen in der Erschöpfung und dem Verlust der Lebenskraft endeten. Die Klugheit besteht darin, die eigenen Grenzen zu erkennen und die äußeren Gegebenheiten richtig einzuschätzen.
Fuchs, du hast richtig gehandelt!