Motivation

Innerer Monolog zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  Manzanita

Alles online.

Meine Motivation scheint sich auch in irgendeiner Cloud zu verstecken, wie dieser fremde Typ, der letztens in die Mathe-Konferenz kam. Zuhause ist kaum noch etwas übrig. Was soll ich da, stundenlang vor dem Computer. Lernen sowieso nicht mehr, das ist lange her. Ich kann auch weggehen. Ich kann im Internet surfen. Ich kann bescheuerte YouTube-Videos schauen, aber das macht nichts besser. Nichts ist besser. Das machen, was man muss, ist eine Stärke, die ich gerne behalten würde. Aber warum sollte ich? Ich könnte weggehen. Ich könnte, wie so viele andere auch, nicht reagieren, wenn die Lehrerin mich aufruft. Technisches Problem, sicher. 

Wann soll überhaupt die nächste Prüfung sein? Nach den Osterferien, noch lange hin. Da muss ich noch nicht dran denken. Eigentlich muss ich an gar nichts denken. Aber alle anderen diskutieren über irgendwelche Lösungen der Matheaufgabe, fällt es auf, wenn ich nichts sage? Nein, es sind sowieso immer nur dieselben Leute, die sich da streiten. Ich sollte mich auf meine Rechnung konzentrieren. Falsch. Nicht 11, 2. Warum? Verstehe ich nicht. Der Taschenrechner meint auch 2. Naja, korrigieren. Nächste Aufgabe, nicht zu langsam werden! Falsch! Nein, richtig! Die Lehrerin hat den Überblick verloren, typisch. Sie ist neu, wahrscheinlich Quereinsteigerin. Kein Referendariat, wegen Lehrermangel. Lehrermangel, obwohl Lehrer immer Recht haben.

Mein Kopf wird warm. Sehr warm. Ich erinnere mich an den Cortisol-Test im Dezember, da war mein Kopf auch warm, sehr warm. YouTube aufrufen. Lehrer, wohl intelligenter als meiner, erklären den Physikstoff. Muss ich schauen, muss ich verstehen. Nicht verstanden? Noch mal schauen. So geht das immer weiter. Auch Quereinsteiger, der Physiklehrer, war vorher Laborassistent. Lehrermangel. Warum mangelt es wohl an Lehrern? Weil es nicht an Erklärvideos auf YouTube mangelt. Noch fünf Minuten. Der Physiklehrer überzieht. Verstehe ich nicht. Die Aufgabe, meine ich. Durchschnittsgeschwindigkeit von 5 Minuten 90 km/h und dann 10 Minuten 65 km/h. Was macht der da? Muss das nicht doppelt? Naja, er wird schon Recht haben. Lehrer haben immer Recht, wie YouTube-Videos. "The simple club", als ob der Physikunterricht oder die Google-Datenschutzerklärung simpel wäre, das ist bloß der Physiklehrer. Lehrer Schmitt: "Danke, dass ihr wieder eingeschaltet habt." Danken Sie dem Quereinsteiger, er wird Ihnen auch danken.

20 Minuten Pause, 3 Meter zum Sofa. Sofabesuch. Strecken. Ich bin immer noch so müde, wie heute Morgen. Bin ja auch noch nicht rausgegangen. Die Laterne im Fenster wackelt. Offline. Die Laterne ist offline. Ich bin online. Ich bin in der Cloud. Ich schaue auf die Welt runter, vom Himmel aus. Ich bin Gott. Nein, bin ich nicht. Gott wird nicht gefragt, was ein Subjekt ist. Subjekt: Ich. Ich gehe mit meiner Tochter einkaufen. Man erkennt es am Prädikat: einkaufen gehen. Naja, bin sowieso erst bei B1. In der fünften war ich noch ein Muttersprachler, dann bin ich auf "Hallo"-Niveau gerutscht. Der Lehrplan hat immer Recht.

2. Stunde Mathe. Ich habe noch nicht angefangen. Aber ein paar Absätze geschrieben. Weitermachen. x=3y-2. Schöne Gleichung. Gleichungen haben nicht immer Recht. Weitermachen. Lieber keine Probe, dann bin ich bloß enttäuscht. Weitermachen. 76:19=4. Das hat jemand vorgerechnet, ich glaube nicht an Zufälle. Ich dackele da bloß jemandem hinterher, der hat das alles schon mal gerechnet und da auf dieses Blatt geschrieben. Warum nicht einfach weggehen? Mein Gehirn blockiert. Nicht weiterdenken. Keine Revolution. Ich bin schon bei b! Weitermachen. Bücken, immer nur bücken. Mein Kopf schläft in der Position "vor dem PC sitzen und schreiben" ein, aber so läuft Digitalisierung nun mal. 12:00, die Stunde ist um. Egal, weitermachen. Freistunde opfern, alles für das Virus. Jetzt! Bald ist alles vorbei! Politiker sind nie vorbei. Und Das Virus nur, wenn wir uns ihm bewusstwerden. Nichts verschwindet einfach so. Viren haben immer Recht.

Warum? Warum sitze ich hier? Warum gibt es das Internet? Konnte denn niemand voraussehen, was passieren würde? Ohne Internet wäre alles so viel schöner... Ich wäre offline. Alle wüssten, was ein Subjekt ist. Und ich würde mich nicht dauernd ablenken. Weitermachen. Warte! Da isst jemand Mittag in der Küche. Bin ich dran oder esse ich nach der Schule erst? Nachfragen. Nein, ich bin später dran. Familie, das bedeutet wohl, dass wir getrennt essen. Wegen den ganzen scheiß Meetings. Um halb eins! Wessen Idee war das? Um 1! Um halb 2! Das Radio darf mich von der Küche aus begleiten. Keine Tür von Küche bis Wohnzimmer, Ablenkung garantiert. 26 von 100 Punkten hat Hessen irgendwo gekriegt. Das beste Bundesland ist Thüringen. Wie kommt das denn! Thüringen, war da nicht mal was.... Ja, da regierten doch die Linken. Was ein Zufall. Politik eben, da ist jede Position legitim, aber Ratings gibt es trotzdem.

Digitalisierung. Ablenkung garantiert. Ginnheimer Kurve, Seite 55 im Nahverkehrsforum Frankfurt. Seite 55. Seit 11 Jahren läuft die Diskussion. Seit 11 Jahren bloß Papiere, Streckenpläne, Anwohnerinitiativen und, nicht zu vergessen, PowerPoint-Folien! Ganz wichtig für den CDU-Politiker im Wahlkampf. Halbe Stunde zu spät aber immer mit Projektor und PowerPoint. Merkel kann bestimmt auch PowerPoint bedienen, oder konnte, bis sie eine PowerPoint-Abteilung gründete. Digitalisierung, PowerPoint eben. Alles für Microsoft. So viel Power hat PowerPoint. PowerPoint hat immer Recht. Weitermachen, schon die Hälfte geschafft! Noch drei Rechnungen! Aufgabe f: Unendlich viele Lösungen. Diese Gleichung hat immer Recht.

Mama verschwindet in meinem Zimmer, das einzige noch freie inklusive Tür und Internet. Jetzt ist wirklich Ruhe. Jeder vor seinem oder ihrem PC, im Zimmer. Nur ich, ohne Tür, habe die ganze Wohnung für mich. Nein, doch nicht. Mittagessen. Statt um halb drei will meine Schwester jetzt schon. Naja, die glückliche ist mit ihren Aufgaben in Sport schon fertig, die hat noch Zeit. Ich nur 15 Minuten. Vollstopfen angesagt. Danach Englisch. Der Lehrer, mit unverwechselbarem und kaum verständlichem Akzent aus Kalifornien, grüßt in den Computer rein und befiehlt uns, zwei Kapitel aus einem Buch zu lesen. "Write "done" when you are finished", schreibt er in den Chat, natürlich ohne das erste Wort mit einem Großbuchstaben zu beginnen. Rechtschreibung, aber auch Kommata interessieren ihm kein bisschen. Er will Geld. Geld hat immer Recht.

In Spanisch taucht die Lehrerin nicht auf, obwohl heute ein "Meeting" stattfinden sollte. Schön, da habe ich mich um halb eins vollgestopft und jetzt könnte ich gemütlich essen. Naja, dann mache ich mit der Gruppenarbeit weiter. Gruppenarbeiten sind das Einzige, was wir mit der Lehrerin machen. Und die Gruppe besteht darin, dass wir uns untereinander aufteilen. Teamwork. Teamwork funktioniert eben immer. Zumindest, wenn die Gruppe anwesend ist, also nicht nur ich. Nicht mal mein Mikrofon scheint es zu sein, wenn ich auf "Stummschaltung aufheben" drücke, kommt eine Fehlermeldung. Da bin ich aber mal gespannt, was die anderen bis Montag noch so schaffen. Ich habe noch Mathe und Bio Hausaufgaben.

Einfach mal weggehen, bitte, warum mache ich das nicht einfach?

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