Blätterregen - 1
Erzählung
von minze
Die Blätter regnen durchs Licht über die Straße, flattern weiter. Wir treffen meinen Bruder im Wald. Wir wollen noch Bäume pflanzen, noch ein Treffen im Freien, zur Sicherheit. Er hat Dünger aus D-Mark Zeiten bei meinen Eltern gefunden und ein Lot aus 25 Tannenbäumchen gekauft. Im Fachmarkt. Er ist total überzeugt, ich mache einfach mit, es ist eine schöne Idee mit den Kindern. Es rentiere sich, weil das Lot so viel wie ein abgeholzter Weihnachtsbaum koste. Sein Kind wird bald ein Jahr alt. Vielleicht werden wir in wenigen Jahren hier selbst die Bäume zu Weihnachten schlagen. Als ich heute Nachmittag Oma anrufe und beschließe, ihr dieses Mal etwas zu erzählen, bevor ich sie frage, wie es ihr gehe, muss sie bald lachen. Christian meinte, in fünf Jahren gibt es die erste Ernte. Oma sagt, in frühestens zehn. Ich will sie immer über unsere naiven Einfälle lachen hören. Es erleichtert mich in meinem Weltbild – etwas erzählen, etwas fragend und dann ihr Besserwissen, ihre belustigte Güte. Das Fieber messe sie gleich. Bald darauf schreibt meine Cousine in unserem Live-Ticker, es sei leicht gesunken. Zu mir sagt Oma, dass sie vor allem appetitlos sei. Aber sie esse immer ein bisschen. Sie kocht immer noch. Das wird sie immer. Gestern sagte sie, sie müssten jetzt zu zweit kämpfen, Opa und sie, weil sie ihn nicht zu Hause lasse, weil sie nirgends wohin gehe. Ohne einen Turnus zu verabreden, schaffen wir eine relativ engmaschige Kontrolle und ein immer neuerliches Aktivieren von Trinken, Medikamenteneinnahme und Fiebermessen. Vor drei Tagen konnte sie keine Sätze beenden und legte das Telefon weg. Jedes Wort zu mir war ihr zu viel. Sie verschwamm im Rauschen, ich konnte sie nicht mehr greifen. Meine Mutter war direkter, laut und deutlich am Hörer, doch kein Zureden half. Wir wollten einen Krankenwagen, sie leistete der Drohung Widerstand. Ich verstehe dahinter ihre Worte von gestern, wegen Opa.
Sie war bei der Hochzeit meines ältesten Cousins, an diesem späten Sommertag vor ihrer Hüftoperation, an dem ich es unvernünftig fand - aber eigentlich eher in Spanien und Frankreich die Lage erneut zu entgleiten schien. Das ist wichtig. Sie sind jetzt zu zweit zu Hause. Manche in der Familienchatgruppe übernehmen Gebete, zwei gehen hin und andere schimpfen, weil man nicht hinsoll, wir deklinieren also durch, was eine Kontaktperson ausmacht: den Abstand, die Zeit.
Am Abend gehen mein Onkel und meine Mutter die Lage kurz durch. Sie sprechen leise und haben weiche Stimmen. Sie wechseln sich zuvor telefonisch ab mit den genauen Anweisungen zur Medikamenteneinnahme ihrer Eltern. Da am Abend immer wieder die Sätze und die Konzentration meiner Oma abbrechen, braucht es viele Anläufe. Das Erinnern an das Glas Wasser, das nervende Fordern, dann Abwarten, dann langsames Aufarbeiten vieler einzelner Schritte. Das erneute Erinnern an das Glas Wasser. Manchmal ein Absichern durch einen späteren Anruf, ob nichts erbrochen wurde. Sie sprechen selten so zärtlich und weich zueinander. Mein Onkel und meine Mutter teilen sich ihre Sorge etwas auf, es scheint so zu gehen, auf seinen gesunkenen und ihren gebrochenen Schultern. Momentan haben sie keine wütenden Impulse mehr, keine Verletzung, die sie einander in den Weg legen können. Jetzt sind nur noch die kommenden Stunden und Tage zu organisieren und weiter zu leben. Anders als meine Cousins wird der Glauben nicht bemüht, es erleichtert mich sehr. Da er den beiden gefährlich wurde, er trennte sie scharf. Jeder hält sich so fest an seinen. Und sie behalten die Verletzungen. Wenn sie mich treffen, so wehre ich mich. Ich will sie jetzt nicht mehr an mir haften haben.
Ich konnte bei meinen Großeltern keinen Nährboden für diese Furcht voreinander finden. Nur vorsichtig fange ich an, etwas zu ahnen. Für mich war es dort warm und herzlich. Die Offenheit konnten wir durch Lachen bestechen. Als junge Frau wurde es dann anders; da ging ich drüber. Wir haben in meiner Kindheit viel gebacken, gebastelt, ausdauernd Memory und lange noch Superhirn gespielt. Mit Opa Schach, ich hielt ihn lange für den klügsten Mann. Seit der Demenz kommt der Chauvi wieder hervor: die danebenen Sprüche, die er sich eigentlich nicht leisten sollte gegenüber mir als Frau. Das kann ich ihm kurzzeitig vermitteln. Aber er lacht anschließend, ist sich gegenüber nachgiebig und noch befangen im Nachhall seiner Witzeleien. Unangenehm waren die Bemerkungen zum Stillen, zur Milch, die aus meiner Brust läuft.
Oma war eine Stütze, in den Jahren, als ich mich von Mama entfernte. Wir verstanden einander, im Entfernen von meiner Mutter konnte ich sie ihr näherbringen. Sie fragte nach. Sie betete dauernd, aber fragte auch nach. Auch wenn sie wieder im Krankenhaus war, wenn sie wieder taube Glieder und überbordernde Schmerzen hatte, sie konnte sich darauf nicht zurückwerfen lassen, konnte mich stützen. Ich bin wie du. Ich will dir gleich sein. In den Dingen, in denen ich anders bin, versuche ich mir in diesen Tagen Mühe zu geben. Ich putze. Ich kämme meine Haare. Ich versuche, ordentlich zu schreiben.
Es fühlt sich sicherer an, als damals im Frühjahr, als wir bei ihr eine Corona-Infektion befürchteten. Manchmal ist die Realität beruhigender als eine bloße Furcht. Man erfasst sie. Damals war sie alleine, isoliert im Krankenhaus, durch die tatsächliche Blutvergiftung waren die Blutwerte dramatisch und nicht zu erklären; so wie damals der Virus noch unerklärt war. Die Lage in allem war panisch und nun sind wir eine Mannschaft, um sie herum, keine Pfleger und Ärzte, deren Informationen kaum durchkommen, eventuell. Dabei sind wir nur Laien, kontaktlos, außer meine Cousine zieht das weiterhin durch mit dem Besuchen.