H & C

Text

von  Verlo

Zwei Nobelpreisträger für Literatur.


Vom einen besitze ich seit Jahrzehnten Bücher, die mir von Freunden empfohlen wurden, habe allerdings erst einige Seiten gelesen.


Vom anderen besitze ich seit Jahrzehnten Bücher, die keiner meiner Freunde gelesen hat, die niemand, den ich kenne, gelesen hat, mir aber an Herz gewachsen sind wie es nur wenige Bücher können. 


Lese ich Texte des einen, werde ich gezwungen, die Welt zu retten. 


Lese ich Texte des anderen, bin ich zum Schreiben inspiriert.


Der eine erhielt der Nobelpreis 1946, der andere 1985.


Der eine schreibt:


Der Tag war vergangen, wie eben die Tage so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit meiner primitiven und schüchternen Art von Lebenskunst; ich hatte einige Stunden gearbeitet, alte Bücher gewälzt, ich hatte zwei Stunden lang Schmerzen gehabt, wie ältere Leute sie eben haben, hatte ein Pulver genommen und mich gefreut, daß die Schmerzen sich überlisten ließen, hatte in einem heißen Bad gelegen und die liebe Wärme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte meine Atemübungen gemacht, die Gedankenübungen aber heut aus Bequemlichkeit weggelassen, war eine Stunde spazieren gewesen und hatte schöne, zarte, kostbare Federwölkchenmuster in den Himmel gezeichnet gefunden. Das war sehr hübsch, ebenso wie das Lesen in den alten Büchern, wie das Liegen im warmen Bad, aber — alles in allem — war es nicht gerade ein entzückender, nicht eben ein strahlender, ein Glücks und Freudentag gewesen, sondern eben einer von diesen Tagen, wie sie für mich nun seit langer Zeit die normalen und gewohnten sein sollten: maßvoll angenehme, durchaus erträgliche, leidliche, laue Tage eines älteren unzufriedenen Herrn, Tage ohne besondere Schmerzen, ohne besondere Sorgen, ohne eigentlichen Kummer, ohne Verzweiflung, Tage, an welchen selbst die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dem Beispiele Adalbert Stifters zu folgen und beim Rasieren zu verunglücken, ohne Aufregung oder Angstgefühle sachlich und ruhig erwogen wird. 

Wer die anderen Tage geschmeckt hat, die bösen, die mit den Gichtanfällen oder die mit jenem schlimmen, hinter den Augäpfeln festgewurzelten, teuflisch jede Tätigkeit von Auge und Ohr aus einer Freude zur Qual verhexenden Kopfweh, oder jene Tage des Seelensterbens, jene argen Tage der inneren Leere und Verzweiflung, an denen uns, inmitten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen Erde, die Menschenwelt und sogenannte Kultur in ihrem verlogenen und gemeinen blechernen Jahrmarktsglanz auf Schritt und Tritt wie ein Brechmittel entgegengrinst, konzentriert und zum Gipfel der Unleidlichkeit getrieben im eigenen kranken Ich — wer jene Höllentage geschmeckt hat, der ist mit solchen Normal und Halbundhalbtagen gleich dem heutigen sehr zufrieden, dankbar sitzt er am warmen Ofen, dankbar stellt er beim Lesen des Morgenblattes fest, daß auch heute wieder kein Krieg ausgebrochen, keine neue Diktatur errichtet, keine besonders krasse Schweinerei in Politik und Wirtschaft aufgedeckt worden ist, dankbar stimmt er die Saiten seiner verrosteten Leier zu einem gemäßigten, einem leidlich frohen, einem nahezu vergnügten Dankpsalm, mit dem er seinen stillen, sanften, etwas mit Brom betäubten Zufriedenheitshalbundhalbgott langweilt, und in der laudicken Luft dieser zufriedenen Langeweile, dieser sehr dankenswerten Schmerzlosigkeit sehen die beiden, der öde nickende Halbundhalbgott und der leicht angegraute, den gedämpften Psalm singende Halbundhalbmensch, einander wie Zwillinge ähnlich. 



Der andere schreibt:


Er hielt einen Brief in der Hand, er hob die Augen schaute mich an dann wieder den Brief dann wieder mich, hinter ihm konnte ich die roten mahagonibraunen ockerfarbenen Flecken der Pferde die man zur Tränke führte kommen und gehen sehen, der Schlamm war so tief daß man bis zu den Knöcheln darin versank aber ich erinnere mich daß es in der Nacht plötzlich gefroren hatte und Wack kam mit dem Kaffee in die Stube sagend Die Hunde haben den Schlamm gefressen, ich hatte die Redewendung noch nie gehört, mir schien als sähe ich die Hunde, irgendwelche höllischen mythischen Kreaturen ihre rosaumrandeten Mäuler ihre kalten weißen Wolfszähne in der Finsternis der Nacht den schwarzen Schlamm kauend, vielleicht eine Erinnerung, gefräßige alles säubernde aus dem Weg räumende Hunde: jetzt war er grau und wir verrenkten uns beim Laufen die Füße, wie immer zu spät beim Morgenappell, uns fast die Knöchel verstauchend in den tiefen von Hufen hinterlassenen steinhart gewordenen Spuren, und nach eine Weile sagte er Ihre Mutter hat mir geschrieben. Sie hatte es also meinem Verbot zum Trotz doch getan, ich fühlte daß ich rot wurde, er unterbrach sich so etwas wie ein Lächeln versuchend aber es war ihm wohl unmöglich, nicht etwa liebenswürdig zu sein (sicher wollte er es) sondern jene Distanz zu überwinden: es verzog nur ein wenig seinen graumelierten kleinen Schnurrbart, er hatte die gegerbte mattbraune Gesichtshaut von Leuten, die immer im Freien leben, etwas Arabisches, wahrscheinlich das Überbleibsel von jemandem den Karl Martell zu töten vergessen hatte, vielleicht behauptete er deshalb nicht nur von Seiner Cousine der heiligen Jungfrau abzustammen wie sein Krautjunker von Nachbarn im Tarn sondern obendrein sicherlich noch von Mohammed, er sagte Ich glaube wir sind mehr oder weniger Vetter, aber ich vermute daß in seiner Vorstellung dieses mir geltende Wort eher soviel wie Mücke Insekt Schnake bedeutete, und von neuem fühlte ich daß ich rot wurde vor Zorn wie vorhin als ich diesen Brief in seinen Händen gesehen, das Papier erkannt hatte. Ich antwortete nicht, wahrscheinlich sah er daß ich wütend war, ich schaute ihn nicht an sondern den Brief, am liebsten hätte ich ihn ihm weggenommen und zerrissen, er bewegte ein wenig die Hand die das entfaltete Blatt hielt, die Ecken schlugen wie Flügel in der kalten Luft, seine schwarzen Augen blickten weder feindselig noch verächtlich, sogar herzlich aber auch sie distanziert: vielleicht war er ja genauso gereizt wie ich, mir dankbar für meine Gereiztheit während wir die kleine mondäne Zeremonie fortsetzten dort im gefrorenen Schlamm stehend, den Gepflogenheiten den Konventionen dieses Zugeständnis machend, beide mit Rücksicht auf eine Frau die zu meinem Unglück meine Mutter war, und am Ende begriff er wohl denn sein kleiner Schnurrbart zuckte von neuem während er sagte Nehmen Sie es ihr nicht übel Es ist völlig normal daß eine Mutter Sie hat recht getan was mich betrifft so freue ich mich Gelegenheit zu haben Ihnen wenn Sie mich je brauchen sollten, und ich Vielen Dank Herr Rittmeister, und er Sollten Sie Schwierigkeiten haben zögern Sie nicht zu mir zu, und ich Jawohl Herr Rittmeister, noch einmal schwenkte er den Brief, es mußte um die sieben oder zehn Grad unter Null sein an diesem frühen Morgen aber er schien es nicht einmal zu bemerken. Nachdem die Pferde getrunken hatten trabten sie zurück, paarweise, wobei die zwischen ihnen laufenden Männer auf sie fluchten und sich zum Spaß an die Trensen hängten, man konnte das Geräusch der Hufe auf dem gefrorenen Schlamm hören, indes er wiederholte Sollten Sie Schwierigkeiten haben werde ich mich glücklich schätzen Ihnen, dann den Brief zusammenfaltete ihn in seine Tasche steckte mir von neuem etwas zeigte was in seiner Vorstellung wohl wieder ein Lächeln war aber ein weiteres Mal nur den graumelierten Schnurrbart verzog worauf er auf dem Absatz kehrtmachte.


Der eine ist Hermann Hesse, zitiert aus "Steppenwolf", Anfang, nach "Vorwort des Herausgebers".

Der andere ist Claude Simon, zitiert aus "Die Straße in Flandern", Anfang.

Das eine Zitat habe ich aus einer PDF kopiert und eingefügt.


Das andere Zitat mußte ich Wort für Wort aus dem Buch abschreiben.

Das hätte ich mit dem einen nie gemacht.




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Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(15.12.22, 20:35)
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 Verlo meinte dazu am 15.12.22 um 20:39:
Agnete, du magst wohl keinen von beiden?

 RainerMScholz antwortete darauf am 02.04.24 um 23:20:
Wo ist der eigene Text?
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