IV. Die Nihilisten

Prolog zum Thema Geborgenheit/ Wärme

von  Terminator

Die Vitalisten sind die, die aus Mangel an Leben das Leben bejahen. Die Nihilisten verneinen das Leben aus demselben Grund.


Der Vitalist will, aber kann nicht. Der Nihilist weiß, dass er nicht kann, also will er nicht. Der Vitalist ist ein Belohnungsoptimist, der Nihilist ein Belohnungspessimist. Ein Nihilist mit Ressentiment verhält sich gegenüber dem Leben wie Äsops Fuchs zu den Trauben.


Der Missratene ohne Ressentiment stellt einfach fest, dass er missraten ist. Das – die geistige Selbstbestimmung – erhebt ihn bereits über die Herde der Kranken, die ihren Priester suchen, um Lebenslügenelixier verabreicht zu bekommen. Der aufrichtige Missratene stellt aber fest, dass er missraten ist, und setzt seinem Leben souverän ein Ende. Das wäre der edle Nihilismus, den wir den lakonischen Nihilismus nennen können.


Denkt der Missratene, zu viel gelitten zu haben, so will er lieber noch weiter leiden, als die Verlustrechnung zu akzeptieren und das Geschäft des Lebens abzuschließen. Seine Lebenslüge ist die ausgleichende Gerechtigkeit, die aus göttlichem Mitleid resultiert. Er will die Liebe Gottes als Caritas, und dieses Betteln um das Mitleid macht ihn für die Götter verachtenswert. Ein Niederer, der um Mitleid fleht, löst bei einem Höheren Ekel aus.


Der Missratene erliegt nicht so sehr dem Trugschluss der versunkenen Kosten – das wäre ein rationaler Irrtum, aber der Schlechtweggekommene denkt nicht rational, sondern magisch – , vielmehr will er Wiedergutmachung, Genugtuung und Rache. Und seine Rache besteht darin, dass für ihn das Leben nicht sein soll.


Die Verneinung des Lebens als moralisches Ideal erscheint in vielen Religionen seit der "Achsenzeit" (Karl Jaspers). Buddhismus, Manichäismus und Gnosis haben das Leben selbst für das Böse erklärt; wo das Gute stattfinden soll, wenn nicht in einem anderen, besseren Leben, ist eine Frage, die nach der Schwere und Dichte des Ressentiments jeweils anders beantwortet wird. Entweder wartet, nachdem wir den Gott dieser Welt als einen bösen Demiurg entlarvt haben, eine bessere Welt auf uns, vom "wahren Gott" erschaffen, oder die Verzweiflung hat schon alle Hoffnung aufgefressen, und wir dürfen uns auf das Nirwana freuen. Das Nichtsein muss natürlich durch wahrhaftige Verneinung des Seins redlich verdient werden.


Überhaupt macht den besonderen Charakter eines Ressentiments das darin enthaltene Mischverhältnis von Hoffnung und Verzweiflung aus. Überwiegt die Hoffnung, ist der Missratene grundsätzlich Vitalist; überwiegt die Verzweiflung, ist er Nihilist.


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Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (14.03.23, 20:07)
Schöner, antithetischer Text, wobei klar ist, dass Du also Aphoristiker die Begriffe Nihilist und Missratener in einer bestimmten Weise voraussetzt, die sich aus dem Zusammenhang klärt. 

Unter anderem hat mir folgender Satz zugesagt: Denkt der Missratene, zu viel gelitten zu haben, so will er lieber noch weiter leiden, als die Verlustrechnung zu akzeptieren und das Geschäft des Lebens abzuschließen. Seine Lebenslüge ist die ausgleichende Gerechtigkeit, die aus göttlichem Mitleid resultiert.

Gleichwohl besteht natürlich die Möglichkeit, dass die Lebenslüge (der ausgleichenden Gerechtigkeit) eine metaphysische Wahrheit sein könnte.

 harzgebirgler (07.07.23, 18:08)
"Was ist Metaphysik? ist der Titel eines von  Martin Heidegger am 24. Juli 1929 gehaltenen Vortrags. Es ist die öffentliche Antrittsvorlesung Heideggers, der zu diesem Zeitpunkt an der  Freiburger Universität den Lehrstuhl  Husserls übernahm.
Heidegger bestimmt in dem Vortrag den Menschen als das Wesen, welches in der  Metaphysik nach dem Ganzen fragt. Er setzt sich mit der Beziehung von  Philosophie und  Wissenschaft auseinander, indem er deren Verhältnis zum  Nichts thematisiert. Dabei zeigt sich, dass erst durch das Nichts die „Grundfrage“ der Philosophie und somit auch der Wissenschaft motiviert wird: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Da die  Logik sich als untauglich erweist, das Nichts zu begreifen, lehnt Heidegger sie als zentrale Methode der Metaphysik ab.
Der Vortrag stellt einen wichtigen Übergang zwischen dem  Denken aus  Sein und Zeit und Heideggers Spätwerk dar. Seine Bedeutung lässt sich auch daran ermessen, dass Heidegger nachträglich 1943 ein Nachwort und 1949 eine Einleitung verfasst, in denen er sich jeweils selbst interpretiert."

(https://de.wikipedia.org/wiki/Was_ist_Metaphysik?)
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