Das Geheimnis des französischen Botschafters

Text zum Thema Geheimnis

von  CapitaineNemo

Berlin Hohenschönhausen, Montag, 5. Mai 2014

 

Mit einem Schlag herrschte eisige Stille. Christine blickte nacheinander auf die eingesammelten Leistungskontrollen auf dem Lehrertisch, auf die vor ihr sitzende Klasse und auf deren Klassenleiter, der in kariertem Sakko und dunkelbraunem Rollkragenpullover in der halb offenen Tür stand.

Frank-Peter Horstmann war ein schlanker Endfünfziger mit vollständig ergrautem Haar, das längst den Rückzug angetreten hatte, um Platz für das zu machen, was man gemeinhin als hohe Stirn oder Halbglatze bezeichnete.

Ansonsten war ihm anzusehen, dass er alle Anstrengungen unternahm, um sein sportliches Erscheinungsbild zu erhalten. Mindestens drei Abende in der Woche verbrachte er bei seinem Handballverein. Entweder um auf dem Spielfeld seine Jugendmannschaft zu schinden, die in der Regionalliga als unbezwingbar galt, oder um dasselbe mit sich selbst im dortigen Fitnessstudio zu tun.

Auf seiner Stirn waren steile Falten erschienen und sein Blick schweifte durch die Bankreihen, ohne von Christine Notiz zu nehmen. Es schien, als ob er ihre Anwesenheit nicht bemerkte. Oder sie vorsätzlich ignorierte.

Noch hatte er kein Wort gesprochen, nur mit dem Schlüsselbund geklappert, der an seiner linken Hand baumelte. Christine fragte sich, ob er diesen gelegentlich als Wurfgeschoß gegen aufbegehrende Schüler einsetzte. Doch im Moment war das nicht nötig. Die Unerschütterlichkeit, mit der Horstmann seine im gesamten Kollegium verschriene 8 d musterte, genügte, um jegliche Gedanken an Widerstand niederzuhalten. Zumindest im Moment noch.

„Gehen Sie mal nach draußen, Frau Pohl, ich kläre das“, raunte er schließlich, immer noch ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wieder rasselte der Schlüsselbund.

Schweigend nahm Christine das Blätterbündel und die Tasche vom Lehrertisch.

„Warten Sie im Lehrerzimmer auf mich!“, gebot er, wobei sein Kopf für eine Sekunde herumschwenkte. Der flüchtige Blickkontakt verhieß etwas Anklagendes. Und der heruntergezogene Mundwinkel etwas Verächtliches.

„Dauert allerdings noch ein kleines Weilchen. – Aber Sie haben doch dann ’ne Freistunde, oder?“

Christine nickte und warf einen letzten Blick auf Horstmann und seine Chaotenklasse, ehe sie die Tür des Physikraums hinter sich ins Schloss krachen ließ.

Erleichtert lehnte sie sich gegen die Türfüllung und schloss die Augen. Doch der Entspannungsmoment währte nicht lange, denn Horstmann hatte seine Strafpredigt begonnen. „Ihr habt wohl ein volles Rad ab, was?“, hallte seine um Gelassenheit bemühte Stimme durch die Tür. „Nicht genug damit, dass ein Drittel von euch versetzungsgefährdet ist und ich seit Februar zehn Verweise verteilt habe, jetzt kriegt ihr nicht mal mehr ’ne simple Leistungskontrolle hin?“

Dem Horstmann war also klar gewesen, was sie heute in der 8 d vorgehabt hatte, wahrscheinlich hatte er gestern von Meissner davon erfahren, ehe dessen Krankmeldung eingetroffen war. Dabei hatte ihr Mentor aber vermutlich vergessen zu erwähnen, dass die Anordnung dieses Leistungstests gegen ihre Bedenken geschehen war. Und beiden musste klar gewesen sein, dass dies in Horstmanns Truppe nicht funktionieren würde. Erst recht nicht bei einer jungen Referendarin, die der Schulleiter überredet, ja gezwungen hatte, diese Klasse, … diesen Sauhaufen zu übernehmen. Was Horstmann aber gleichgültig war. Ebenso wie seine Klasse, obwohl er sich gerade nach Kräften bemühte, sie zurechtzustutzen. Wie ein preußischer Sergeant, der die neuen Rekruten inspiziert. Doch sein Vorrat an gespielter Abgeklärtheit würde rasch aufgebraucht sein. Spätestens dann, wenn seine Anbefohlenen ihn mit ihrer diffusen Version der Vorkommnisse konfrontierten. Oder schon vorher.

„Wenn Euch Physik gerade nicht in den Kram passt, können wir es gern mit Deutsch versuchen“, brüllte er. „Mir fallen eine Menge Aufsatzthemen ein, die ihr beackern könnt. Bis ihr nicht mehr sitzen könnt und ein bisschen von eurer Dummheit ausgeschwitzt habt.“

Er verharrte, um seine Worte wirken zu lassen und um Atem zu holen. Und um in der Lautstärke nachzulegen.

„Und glaubt mir, ich brauche das NICHT anzukündigen.“ Seine Stimme überschlug sich, ihr Leistungsvermögen hatte endgültig den Grenzwert erreicht. Oder schon überschritten? Deutlich leiser fügte er hinzu:

„So, ihr habt jetzt die Möglichkeit, euch zum Vorgefallenen zu äußern, aber einzeln. Mich interessieren die Fakten, sonst nichts. Und dann könnt ihr sicher sein, dass es in den nächsten Tagen Verweise hageln wird. Eure Eltern werden begeistert sein. Vor allem, wenn ich ihnen sage, dass es mir scheißegal ist, ob ihr bis zum Abitur durchhaltet.“

Nicht sonderlich optimistisch, dachte Christine, und alles andere als pädagogisch. Doch wie viele unter ihren Kollegen interessierte das noch? Sie ging zu einem der Fenster und stellte ihre Tasche auf dem Sims ab, um einen ersten Blick auf die Leistungskontrollen zu werfen.

Etliche Blätter, wie die von Niklas und Florian, waren unbeschrieben, bis auf die Namen. Wie nicht anders zu erwarten.

Fabians und Alexanders Zettel hingegen waren dicht bekritzelt. Seltsam. Hatten sie sich in letzter Minute besonnen? Christine sah genauer hin. Etwas stimmte nicht. Beide hatten die gleichen Aufgaben bearbeitet. Das durfte nicht sein, denn sie hatten nebeneinandergesessen und demzufolge unterschiedliche Aufgaben bekommen, Variante A und Variante B, wie es im Schulalltag gängige Praxis war, damit sie nicht gemeinsame Sache machen konnten. Christine blätterte weiter. Auch Gizem und Dilara hatten sich mit exakt denselben Aufgaben befasst, obwohl sie Banknachbarinnen waren. Kein Zweifel. Einige hatten besonders schlau sein wollen und die allgemeine Unruhe für einen simplen Trick ausgenutzt: Die Blätter unauffällig hin und her tauschen und schon genügte ein unauffälliges Schielen zur Seite, um aufzuschnappen, was der eigene Denkapparat nicht verfügbar hatte. Das war Betrugsversuch, keine Frage, noch dazu ein plumper und durchschaubarer. Christine unterdrückte den Impuls, noch einmal in den Klassenraum zu stürmen, um zumindest klarzustellen, dass sie sich nicht hereinlegen ließ. Doch wozu eigentlich? Sollte doch Horstmann seinen Deppenverein erst einmal zusammenbrüllen. Auch wenn es sinnlos war. Sie konnte es ihm dann im Lehrerzimmer stecken. Falls es ihn überhaupt interessierte.

Gerade wollte sie sich in Bewegung setzen, als wieder dieser Gedanke ungefragt in ihr Bewusstsein drang. Sie hielt inne und sah zum Fenster hinaus. Vor etlichen Wochen hatte er sich erstmals bemerkbar gemacht. Leise und schüchtern. Dann hatte er ein paar halbherzige Vorstöße unternommen, um einen Plan zu unterbreiten, doch Christine hatte es stets geschafft, ihn zurückzuweisen. Doch jetzt hatte er genug. Und sie hatte ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Sicher war es ein tollkühner Plan, ein Sprung ins kalte Wasser, doch er würde Erlösung bringen. Weil er verführerisch und zugleich vernünftig war.

Das bevorstehende Gespräch mit Horstmann würde ihr letztes mit ihm sein. Sie würde auch der 8 d nicht mehr gegenüber treten, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung konnte sie sich zur Not besorgen.

Die Aufenthalte in dieser Schule würde sie für den Rest des Schuljahres auf ein Minimum beschränken. Sie hatte genug von diesem Gymnasium und genug von ausgepowerten Kollegen, genug von endlosen Streitereien mit scheinbar respektlosen, in Wahrheit eher überforderten Schülern. Sie hasste den morgendlichen Blick auf den Stundenplan, der mit Vertretungsstunden überquoll. Weil immer mehr Kollegen die Dauerkrankschreibung als Mittel der Wahl gegen Stressbekämpfung einsetzten.

Ihr fehlte es an Kraft, sich mit Eltern deutscher Kinder herumzuzanken, wenn sie sich über die wachsende Zahl an Ausländerkindern beschwerten. Ebenso fehlte ihr die Energie, den Eltern ausländischer Kinder zuzureden, wenn sie zwar guten Willen zeigten, jedoch oft wegen mangelnder Sprachkenntnisse die Probleme ihrer Kinder nicht einmal im Ansatz verstanden. Christine hatte genug von den ewigen S-, U- und Straßenbahnfahrten durch diesen Moloch von Großstadt, der ihre Lebensenergie aussaugte. Sie würde einen Neuanfang wagen, es war längst nicht zu spät. Erste Erkundigungen hatte sie eingeholt. Sie würde jetzt ins Lehrerzimmer gehen und auf Horstmann warten, allerdings nur, um ihre Version der Vorkommnisse darzulegen. Die Fakten, sonst nichts. Der Rest sollte nicht mehr ihr Problem sein. Danach würde sie dem Schulleiter ihre Absicht kundtun. Das war der Dienstweg. Aber dann würde sie den entscheidenden Schritt tun und das Schulamt anrufen und um ihre Versetzung nach Görlitz bitten. Nicht zuletzt, weil sie dort auf jeden Fall Astronomie unterrichten konnte.

Inzwischen hatte es zur Pause geklingelt. Erleichtert über die gefallene Entscheidung drehte sie sich vom Fenster weg. Sollte sie gleich hier auf Horstmann warten?

Als das nächste Stundeklingeln verklungen war, ohne dass Horstmann sich hatte blicken lassen, schritt sie langsam den Gang entlang Richtung Lehrerzimmer, die Aufgabenzettel wie die Scherben eines zerbrochenen Tellers vor sich her tragend.

Letztlich hatten die vielen jungfräulich gebliebenen Blätter ihr Gutes, sagte sie sich. Der Korrekturaufwand reduzierte sich gewaltig. Weil sie nicht zwischen falsch und richtig abwägen und nur die Zahl sechs und ihre Unterschrift darauf zu kritzeln brauchte. Und sie würde den freien Nachmittag genießen.

Plötzlich hielt sie inne und blieb stehen. Sie starrte auf das Blatt, dass nach dem ersten Durchblättern jetzt ganz oben lag. Als sei es durch Zauberhand dorthin gekommen.

Es kam hin und wieder vor, dass Schüler ihre Klausuren und Leistungskontrollen mit Symbolen, Strichzeichnungen und Krakeleien verzierten. Vielleicht weil es ihnen half, die Konzentration wiederzufinden oder weil sie meinten, dass sie wenigstens den Stift in Bewegung halten sollten, wenn ihnen schon nichts zur Aufgabe einfiel. Mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier musterte Christine das Blatt, das Nicolo abgeliefert hatte. ‚Da haben Leute schon ganze Bücher geschrieben‘, hatte er gesagt. ‚Und doch wird die Schrift nie jemand entziffern können.‘

Doch Nicolo selbst hatte nichts geschrieben, weder Entzifferbares noch Unentzifferbares. Nicolo hatte nur gezeichnet. In die linke obere Ecke des Blattes.

Doch wie kam er gerade auf so was? Zinnen und Wehrgang der mittelalterlichen Burg waren deutlich zu erkennen und im Hintergrund hatte er den Hauptturm, den sogenannten Bergfried angedeutet. Besonders mit den Zinnen hatte er sich Mühe gegeben. Alle exakt gleich groß, die Linien glatt und sauber gezeichnet. Sogar unterschiedliche Schattierungen hatte Nicolo angedeutet, so dass man meinte, das Licht fiele unregelmäßig auf die Mauern seiner Festung. Doch ein winziges Detail unterschied seine Zinnen von den klobigen Steinquadern, die gewöhnlich auf Abbildungen mittelalterlicher Trutzburgen zu sehen waren. Auf jeder Zinne befanden sich zwei viertelkreisförmige Steine, die jeweils mit den Rundungen zueinander zeigten. Jede Zinne wirkte dadurch wie eine Sonnenanbeterin, die beide Arme nach oben ausgebreitet und den Kopf zurück gebeugt hatte.

Wenn sich Nicolo doch mit den Aufgaben zur Wärmelehre halb so viel Mühe gegeben hätte, dachte Christine. Doch sie beneidete ihn wegen seines künstlerischen Talents. Keine Frage. Eigentlich war er ein kluger Kopf, er hatte nur keinen Bock auf Schule. Falls er unter Horstmanns Verweiskandidaten war, würde für seine Eltern eine Welt zusammenbrechen. Sein Vater war Geschichtsprofessor an der Freien Universität, seine Mutter Ärztin.

Christine überlegte angestrengt, wo sie diese Art Zinnen bereits einmal gesehen hatte. Sie verharrte einen Moment und blickte wieder aus einem der zahlreichen Fenster, als wäre die Antwort irgendwo dort draußen.

Als sie eine Minute später das Lehrerzimmer betrat, war von Horstmann immer noch nichts zu sehen. Nur Gabriele Müller, die Geschichtslehrerin war anwesend.

Der neben ihr liegende Blätterstapel verriet, dass sie ihre Schüler heute ebenfalls mit einer Leistungsüberprüfung gequält hatte und nun die Freistunde für deren Korrektur nutzte. Frau Müller war eine korpulente ältere Dame, die die Sechzig bereits überschritten hatte. Mehrmals hatte sich Christine schon gefragt, warum Frau Müller sich nicht längst in ihren mehr als verdienten Ruhestand verkrümelt hatte. Wollte sie den Mythos, sie gehöre zum lebenden Inventar dieser Schule, mit aller Macht am Leben erhalten?

Mit angespannter Miene und auf die Nase geschobener Brille arbeitete sich Frau Müller durch die geistigen Ergüsse ihrer Schüler, schüttelte hin und wieder den Kopf oder kritzelte etwas an den Rand des Blattes. Als Christine den Stuhl ihr gegenüber zurückzog, blickte sie auf.

„Na, Ärger mit der 8 d?“, murmelte sie und schielte interessiert über ihre Brillengläser.

Woher die das schon wieder weiß, wunderte sich Christine und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken.

„Sollte ’ne Leistungskontrolle werden. – Bin nur deutlich schlechter weggekommen als Sie, oder vielleicht auch besser, wie man’s nimmt …“, ergänzte sie, indem sie die Blätter vor sich ausbreitete.

„Sieht aus, als hätte unsere liebe 8 d nicht so recht Lust auf Physik gehabt“, meinte Frau Müller mit belustigtem Blick. „Nehmen Sie’s auf keinen Fall persönlich. Das ist bei denen allgemeiner Frust. Ist mir auch schon passiert. Verteilen Sie einfach ein paar Sechsen. Dann richtet sich das schon wieder.“

Endlich mal jemand, der einen aufmuntert, dachte Christine. Wie eine Mutter, die ihr Kind wegen einer verlorenen Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie trösten will.

„Manche entfalten trotzdem ungeahnte Fähigkeiten“, entgegnete sie und hielt ihr Nicolos Blatt hin. „Wenn auch auf fachfremdem Gebiet. Vielleicht hat der hier sich von Hogwarts inspirieren lassen?“

Neugierig erhob sich Frau Müller und schielte wieder über den Rand ihrer Brille. Dann schob sie sie mit einem Stirnrunzeln kurz auf den Nasenrücken, um sie schließlich ganz abzunehmen.

„Eigenartig, wie das aussieht, das kenne ich … Mit Hogwarts und Harry Potter hat das aber nichts zu tun. Da hat irgendwer diesen Kram wieder hervorgeholt. Ich dachte, das hätte sich ein für alle Mal erledigt.“

Verständnislos blickte Christine erst auf das Blatt dann auf Frau Müller.

„Was wollen Sie … damit sagen? – Wer hat welchen Kram hervorgeholt?“

Frau Müller setzte sich wieder, ehe sie zur Antwort ansetzte. „Das ist ein besonderer Zeichenstil, ihr Schüler da, der …“

„Nicolo Tabarini.“

„Ja genau, der. Er geht, soviel ich weiß, in diesen Mal- und Zeichenzirkel. Irgendwo hier in der Nähe. Da kommt immer so eine Künstlerin, ich glaube aus Köpenick, die macht das für mehrere Schulen hier im Stadtbezirk. – Eigentlich ’ne tolle Sache. Kommt gut mit den Kindern klar und bringt ihnen allerhand bei, wie deutlich zu sehen ist.“

„Ja, ich hab davon gehört. Hat mich aber nicht weiter interessiert. Malen und Zeichnen waren noch nie so mein Ding, wissen Sie. Aber das hier …“

„Da ist selbst Ihnen aufgefallen, dass das nicht einfach sinnentleertes Gekritzel ist?“

„Aber woher kennen sie das? Etwa auch auf Ihren … Geschichtsklausuren da? Da würde es jedenfalls besser hinpassen!“

„Nein, im Gegenteil, ich hab so etwas schon lange nicht mehr gesehen.“

„Also dann … vor meiner Zeit?“

Frau Müller nickte und platzierte einen Brillenbügel im rechten Mundwinkel.

„Vor der Zeit der meisten Kollegen hier. Aber den Malzirkel … den gibt’s schon ewig.“

Christine rechnete, wie lange Frau Müller bereits Lehrerin war.

„Also auf jeden Fall seit DDR-Zeiten?“

„Mein Sohn war damals auch in diesem Zirkel“, begann Frau Müller zu erzählen. „Das muss so Mitte der Achtziger gewesen sein. Da wurde diese Arbeitsgemeinschaft – so hieß das damals – von einem jungen Mann geleitet. Er war Lehrer für Deutsch und Kunsterziehung und hieß Bruno Berger oder Bergmann oder so ähnlich. Ein wahres Talent. Ich frage mich heute noch, warum er nicht mehr aus sich gemacht hat. Einmal war ich sogar bei ihm in der Wohnung. Ich glaube, ich konnte meinen Sohn nicht rechtzeitig abholen, da hat ihn dieser Berger-Bergmann mit zu sich nach Hause genommen. Da hingen etliche Bilder, Skizzen und Zeichnungen, alles von ihm selbst. Allerdings … gleich im Flur, da war ein Gemälde von einem Seerosenteich, ich dachte, es wäre ein Original von Claude Monet, dem Impressionisten.“

„Sie dachten?“

„Sah auf den ersten Blick so aus, aber war’s natürlich nicht. Eine täuschend echte Nachahmung, die er selbst gemalt hatte. Pflanzen waren auch ’ne Zeit lang ständiges Motiv in diesem Zirkel. Das Merkwürdige war, dass die Kinder es nie langweilig fanden. Irgendwann kamen Himmelsdarstellungen hinzu, Sternbilder und so was.“

„Sternbilder? Und … auch Burgen?“

„Ja, das auch, aber überwiegend Pflanzen. Dabei ging er ganz systematisch vor: Zuerst alle möglichen Gewächse originalgetreu zeichnen. Dafür ist er mit den Kindern in Parks und Gärten gegangen. Dann ließ er Kräuter, Blumen und Sträucher aus dem Gedächtnis zeichnen und schließlich sollten sie sich an Phantasiepflanzen versuchen. Die Bedingung war, dass sie in Wirklichkeit nicht existieren durften. Und dann geschah etwas Eigenartiges.“

Christine stützte die Ellenbogen auf und legte den Kopf auf die Hände. Sämtliche Gedanken an die 8 d waren hinweggefegt. Zumindest so lange, wie Frau Müller erzählte.

„Da brachte dieser Bergmann eine uralte Pergamentzeichnung mit in den Unterricht. – Mein Sohn hat sie mir genau beschrieben. Der junge Mann hatte wohl tatsächlich ein mittelalterliches Pergament im Original aufgetrieben. So ein altes vergilbtes Ding. Als hätte er es direkt aus dem Skriptorium geholt.“

Als Christine sie fragend ansah, erklärte sie:

„Na, Sie wissen schon, diese Räume in den Klöstern, wo Mönche endlos Manuskripte abgeschrieben haben. Und wenn ein Bild gebraucht wurde, mussten sie es zeichnen, sie hatten ja weder Fotoapparate noch Handys. – Jedenfalls sollten die Kinder die Pflanzen von diesem Pergament abzeichnen, möglichst genau und immer wieder. Dann wieder aus dem Gedächtnis zeichnen. Und schließlich die Ergebnisse mit den Phantasiepflanzen von vorher vergleichen.“

„Hört sich an, als wollte er erforschen, wie Kinder mit Phantasie und Wirklichkeit umgehen?“

„Oder herausfinden, wie viel Phantasie ein Mensch überhaupt haben kann. Das war jedenfalls mein Eindruck. Mein Sohn hat ja mehr als genug von diesem Zeug mit nach Hause gebracht. Später kam dann ein völlig anderes Motiv hinzu.“

„Aha. Vermutlich Eulen? Oder Katzen?“

Frau Müller lächelte: „Nein, und auch keine Fledermäuse …“

„Einhörner?“

„Nackte Frauen!“

„Oh? – Kompletter Stilwechsel also?“

„Nein, das gehörte irgendwie alles zusammen, ich kann Ihnen nicht sagen warum. Das spürte man. Die sahen auch keineswegs aus wie Models auf Aktfotos. Die waren nur deshalb nackt, weil sie in Badezubern standen … oder saßen.“

„Sagen Sie, könnte ich vielleicht mal einen Blick drauf werfen, natürlich nur wenn es Ihnen recht ist? Sie haben da vorhin was von Sternbildern erzählt. Berufliche Neugier, Sie verstehen schon. Vielleicht kriege ich sogar raus, was den Nicolo inspiriert hat, ehe ich …“

Christine hielt inne. Gerade noch konnte sie sich das von hier abhaue verkneifen. Auf keinen Fall sollte Frau Müller von ihrem Entschluss erfahren. Doch sie ging nur auf Christines erste Frage ein: „Die Zeichnungen, die mein Sohn damals geschöpft hat, meinen Sie? Da muss ich Sie enttäuschen. Davon ist nichts mehr da.“

„Was? Bloß wegen ein paar nackter Frauen?“

„Das dachten wir zuerst auch. Aber es hieß dann, wir sollen sämtliche Zeichnungen abgeben. Alles, was mit Pflanzen, Sternbildern, Burgen und natürlich auch mit den badenden Frauen zu tun hatte. Es sei eine Ausstellung geplant, teilte man uns mit. Wir fanden das ein bisschen komisch, weil dieser Bergmann alle Zeichnungen haben wollte und nicht nur die besten und gelungensten, aber als Lehrer ist man allerhand gewohnt. Als nicht alle sofort reagierten, kam noch ein Schreiben, diesmal vom Schulleiter persönlich, mit der unmissverständlichen Aufforderung: Bitte alle Zeichnungen abgeben, die im Zeitraum von soundso bis soundso bei diesem Bergmann angefertigt worden waren, wegen der Ausstellung.“

„Bestimmt ein tolles Erfolgserlebnis für die Kinder?“

„Nein, die Ausstellung hat niemals stattgefunden und keiner hat je gesagt, warum.“

„Aber der Bergmann muss das doch kommentiert haben?“

„Der verschwand von heute auf morgen von der Bildfläche, genauso wie die Zeichnungen. Keiner wusste, wohin. Den Zeichenzirkel hat dann jemand anders übernommen. Später hieß es dann, Bergmann sei IM gewesen.“

„IM?“

„Inoffizieller Mitarbeiter bei der Stasi. Die hätten ihn als Experten für Bilder und Zeichnungen, vor allem aber als Schriftsachverständigen gebraucht, hieß es dann. War ’ne merkwürdige Geschichte. Wie es aber aussieht, hat man nicht alle Zeichnungen wieder aufgetrieben. Kein Wunder. Die Kinder haben die ja serienmäßig produziert. Und jetzt ist eine davon wieder aufgetaucht. Weiß der Kuckuck woher. Und hat ihrem Nicolo als Vorlage gedient …“

Sie sah auf die Uhr.

„Ach, ist ja gleich Mittag. Haben Sie nicht Lust, mit essen zu kommen? Rüber zum Italiener? Sozusagen aus gegebenem Anlass?“

Sie erhob sich und deutete auf Nicolos Zeichnung, die Christine immer noch in den Händen hielt.

„Ich muss doch auf den Horstmann warten, Sie wissen schon. Tut mir wirklich leid, obwohl ich schon gerne …, ein anderes Mal vielleicht?“

„Ach ja, natürlich. Der Horstmann. Na gut, da überlasse sich Sie dann mal ihrem Schicksal.“

Daraufhin verstaute sie die Geschichtsklausuren in ihrer Tasche und ging zur Tür.

„Lassen Sie sich aber von dem nicht ins Bockshorn jagen“, mahnte sie, bevor Sie aus dem Lehrerzimmer verschwand und die Tür ins Schloss fiel.

 

Christine wartete. Mindestens eine halbe Stunde verging. Wieder klingelte es zur Pause. Einige Kollegen erschienen, unter ihnen auch die wieder vom Italiener zurückgekehrte Frau Müller, jedoch nur, um sofort wieder in die Unterrichtsräume zu entschwinden. Wo dieser eingebildete Horstmann wohl blieb? Christine hatte als Referendarin einen reduzierten Stundenumfang und wollte eigentlich nach Hause. Um in Ruhe über die nächsten Schritte nachzudenken und um auch mit Mutter darüber zu sprechen. Dennoch würde sie getreulich ausharren, bis der Klassenleiter der 8 d endlich erschien. Vielleicht hatte der Schulleiter ihn zu sich gerufen. Oder Horstmann war von sich aus zu ihm gegangen, um mit ihm über die 8 d und über sie, die unfähige Referendarin Christine Pohl zu sprechen. Doch das war egal. Man würde sie rufen, wenn man ihrer bedurfte.

Christine hielt ihr Smartphone über Nicolos Zeichnung und machte ein Foto. Da sich die Schulleitung mit der WiFi-Installation Zeit ließ und es möglicherweise eine längere Recherche werden würde, nahm sie an einem der beiden Computer Platz, die zur allgemeinen Nutzung bereitstanden. Sie gab ihren Namen und ihr Passwort ein, öffnete den Browser und tippte die Worte Burgzinnen und Italien in die Suchmaschine. Vielleicht hatte die kunstvolle Form der Zinnen etwas mit Nicolos Herkunft zu tun. Tatsächlich wurde sie rasch fündig. Bei dem, was Nicolo gezeichnet hatte, handelte es sich um sogenannte Schwalbenschwanzzinnen, die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert vor allem in Südtirol und Norditalien an Wehr- und Ringmauern von Burgen verwendet worden waren.

Das war logisch, doch längst nicht alles. Diese Zinnenform erinnerte Christine an etwas, was sie vorhin schon gespürt hatte. Ein schwaches Wiedererkennen. Und es konnte nicht lange her sein. Wo war ihr eine Mauer mit diesen Zinnen untergekommen? Sie hatte in den letzten Wochen und Monaten keinerlei Burgen oder Schlösser besucht, weder in Deutschland noch in Österreich und erst recht nicht in Italien.

Ob ihr Nicolo eine Botschaft übermitteln wollte? Ihr, der Lehrerin, die sich erdreistete, eine Leitungskontrolle schreiben zu lassen? Nein – horrender Blödsinn!

Christine überlegte weiter. Sie hatte sich im letzten Jahr kaum aus Berlin wegbewegt. Nur im letzten Sommer zu zwei oder drei Triathlonwettkämpfen im Umland. War da nicht noch etwas anderes gewesen? Die Exkursion nach Görlitz vor einem knappen Jahr? Ja, das war gut möglich. Christine tippte die Begriffe Stadtmauer und Görlitz in die Suchzeile. Auch hier ließ das Ergebnis nicht lange auf sich warten: Das Stück Stadtmauer hinter der Peterskirche oberhalb der Neiße und dieses unscheinbare Häuschen, das mit der Stadtmauer wie verwachsen schien. Hatte ihr Vater am Telefon nicht gesagt, sie solle sich das sogenannte Wichhäuschen einmal von der anderen Seite des Flusses betrachten? Auf dem Dach des Häuschens befand sich genau das, was Nicolo gezeichnet hatte: Eine Schwalbenschwanzzinne!



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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (22.04.23, 20:00)
Nemo, dein Buch ist erschienen und steht zum Verkauf, 

https://www.amazon.de/Das-Geheimnis-französischen-Botschafters-Roman/dp/3985276803

insofern wird es dir nicht um Anmerkungen zum Text gehen. Vermute ich.

Oder doch?

Kommentar geändert am 22.04.2023 um 20:00 Uhr

 Dieter Wal meinte dazu am 22.04.23 um 20:53:
@C.: Verlo ist schwer von Begriff. Fast durchgehend. Doch manchmal hat er auch lichte Momente. Am liebsten stellt er durchgehend überflüssige Fragen, deren Antworten meist falsch verstanden werden. Nicht ärgern, nur wundern!

Antwort geändert am 23.04.2023 um 01:55 Uhr

 W-M (25.04.23, 17:38)
gut geschrieben
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