Freiheit - ich bereue Dich nicht!

Short Story zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  pentz

Ich atmete ungehindert durch.

Von irgendwoher wehte eine erfrischende Bö durch diesen Boulevard. Die eine Stirnseite wurde durch ein relativ niedriges Gebäude begrenzt, woher der Wind blies, das andere Ende lief in einer langen, schier endlosen Straße aus – aha, so konnte der Wind durch diese lange Baumstraße ungehindert wehen, wie er wollte.

Zum Gebäude verlief der breite Weg leicht nach oben, wurde durch ein Reiterdenkmal markiert, dahinter ein nur zweistöckiges, vermutlich klassizistisches Gebäude. Welchen Baustil wirklich dieses hatte, wen das auch Reiterdenkmal darstellte? Egal, ich genoss es einfach, sonstwo auf der Welt zu stehen, nur nicht zu Hause, aber doch in einer Metropole, an einem imposanten Platz – fertig!

Fertig?

Trotzdem war mir Angst und Bange.


Der Tisch war wie ein Barhocker mitten auf das Trottoir gestellt, inmitten der unendlichen Touristenströme, was ein abenteuerliches Unterfangen war. Lehnte ich mich darauf, schwappte der Kaffee in seinem kleinen Porzellanstässchen bedrohlich, was mich sehr belustigte. Die dünnen Tassenwände wirkten fragil, anders als die gewohnten klobigen Humpen und breiten Kaffeetassen zu Hause – und alles schien vielleicht deswegen auch anders zu schmecken. Das Törtchen hatte einen intensiveren Geschmack als bisher genossen. Ich ließ es mir schmecken und schlürfte laut das Getränk, während ich die Torte aß, so, wie man es nicht machen sollte, hieß es doch, zuerst das Gebäck, dann die Flüssigkeit, was besser für die Verdauung sei.

Aber das war nur ein Regelbruch, einer der geringsten zudem.

Du hast alle Sicherheit über Bord geworfen, deine erste Ausbildung schon verfehlt und deine zweite gecancelt, eine Beamtenstelle, auf die deine Mutter so hingefiebert hatte, weil sie sich nichts mehr als einen Beamten in den Reihen ihrer Kinder wünschte. Du aber hattest sie enttäuscht.

Egal!

Wirklich?

Nicht wusste ich, was ich wollte, noch was ich werden mochte, welche Rolle in der Gesellschaft ich erfüllen sollte. Wenn ich etwas wusste, ich war nicht nur negativ, dann, ich einmal die Welt sehen wollte, in diese hinaus und hineintauchen, wie derjenige aus dem Märchen, der das Fürchten lernen wollte, weil er sich vor nichts fürchtete.

Gut, ich war im Grunde ein braver Mensch und Bürger, bemüht, die an ihn herangetragenen Erwartungen zu erfüllen und dies hatte ich ja in der Tat bewerkstelligt, indem ich eine Ausbildung abgeschlossen hatte. Aber das war offenbar nicht das, was mich letztendlich befriedigte und wollte - sonst würde ich jetzt nicht hier stehen.

Es war verrückt, es fühlte sich verrückt an: Ich stand ohne Bezug, ohne Freunde und Bekannte, 500 Kilometer von meinem Heimatland da und tat im Grunde das Gleiche, was ich schon früher getan hatte: Sprache unterrichten. Nichts hatte sich grundlegend geändert, als das, ich endlich woanders war, weg, weit weg von dem Ort, den jeder einmal in seinem Leben zugeordnet bekommt, aber an dem ich mich völlig fremd fühlte.

Das war irre!

"So geh!", sagte mir eine innere Stimme. Aber ich konnte nicht - noch nicht. Gedanken schwirrten mich und hindert mich daran. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit meinen Füßen dem Boden scharrte.

Dieser Boden war blutgetränkt, schauderte es mich, hat sich doch einmal hier ein Student, ein junger Mensch namens Jan Palach verbrannt, weil er über die Feigheit seiner Mitmenschen Unglück empfunden hat.

Und du bist nur vor dir selbst zu feige, zu dir zu stehen!

Denn ich musste mich glücklicherweise nicht verbrennen, ich konnte irgendwohin in die Welt laufen, mich in ihr verlaufen, vertun, verzetteln, was auch immer. Ich war frei! Und das war doch schon etwas, etwas mehr als Jan Palach hatte!

Was schaust du also so düster drein, dummer Mensch. Wie dumm, deswegen Unbehagen zu empfinden, Angst und Schwindel.

Am letzten Wochenende hatte mich ein Kollege und meine Freundin hier besucht, wahrscheinlich das letzte Mal. Mein Freund: "Willst Du wirklich noch einmal eine ganz fremde Sprache lernen? Dieser Stress! Denk mal nach! Wir haben doch schon zu viel gelernt in unserem Leben. Jetzt kommt für uns die Zeit, das Leben zu genießen, in materieller Hinsicht, Du weißt, wie ich das meine." Natürlich wusste ich, wie er dies meinte. Ich schwieg. Er schaute mich an, wusste, was mein Schweigen bedeutete, schüttelte den Kopf; ich hob meinen etwas - während wir in diesem Moment genau wussten, sich hier unsere Wege für immer trennen würden. .

Und meine Freundin, die am meisten Verachtung über mich ausgegossen hatte, weil ich meine berufliche Festanstellung und Sicherheit in den Wind gestoßen hatte, hatte dauernd den Kopf geschüttelt, als hätte sie Parkinson, damit ausdrückend, wie kann man sich freiwillig hierher begeben und zum Abschluss, bevor sie in den Zug gestiegen war, hatte sie getönt: „Hier wird mir zu wenig Deutsch gesprochen!“

Ach, sie soll mir den Buckel runterrutschen!

Neben mir hörte ich einen Älteren zu einem Jüngeren sagen: „Ich bin deutsch. Man hat mich von hier vertrieben, als ich jung war. Aber ich habe nichts, nichts getan. Warum darf ich nicht dort leben, wo ich möchte, zum Beispiel in meiner Heimatstadt, hier?“

Ja, er hatte so recht: Warum muss man für Verfehlungen anderer büßen? Auch dieser junge Tscheche, der sich selbst das Leben genommen hat, hat für andere bezahlt. Sich verbrennen, sagt man, muss sehr, sehr schmerzhaft sein. Dies weiß man, bevor man es sich antut. Warum hat sich dieser Mensch dies nur angetan? Woher wusste er nur, es so schmerzhaft ist, dieses Gefühl, in der Unfreiheit zu darben, dieser eisige Zustand, sich eingesperrt zu fühlen, nicht frei leben zu können?

Jedenfalls bot sich mir die Möglichkeit, frei zu leben. Überall auf der Welt konnte ich arbeiten. Für dieses Land hier, auf dem ich mir die Füße vertrat, hatte ich Aufenthalts-, Berufsausübungsgenehmigung- und sogar Arbeitspapiere. Ich konnte mir einen Ort auf dieser Welt aussuchen, wo es mir gefiel, nicht wo es anderen beliebte, mich hinzustellen.

Als ich mich auf den Weg machte, setzte ich zögerlich einen Fuß vor den anderen, als ob ich auf dünnem Eis liefe. Die Sonne schien ungehindert herunter und bildete auf der Oberfläche ein gleißendes Licht wie Eis. Würde ich ausrutschen – jeden Moment befürchtete ich es, so schwankte ich. Um dies zu verhindern blieb ich einfach stehen.

Mein Blick fiel auf eine sonderbar schepse, bizarre Burg. Wie schwer mir der Namen war auszusprechen. Aber dieser passte sehr gut zum surrealen Erscheinungsbild: „Hradschin!“ So befremdlich diese Burg, so verwinkelt würde mein weiterer Lebensweg werden; so kompliziert dieser Name, so viel Kopfzerbrechen würde mir die neue Sprache bereiten.

Ich lief auf sie zu, immer auf die Schwierigkeiten drauf zu laufen, sagte ich mir.

Ich überquerte eine sehr alte Brücke, an deren Balustraden grau-kalkige Heiligenplastiken standen. Andächtig schaute ich zu einem empor, der mir zuzuraunen schien: "Freund, Dein Weg kostet Dir nicht den Tod!", und ein Lachen erfolgte, in das die anderen Steinplastik-Heiligen schallend einstimmten. „Denn überleg mal, was wir haben erdulden und erleiden müssen?“ Ich grübelte darüber nach und verglich deren Schicksal mit meinem, welches mir bestimmt keinen Kopf-kürzer kosten würde, stimmte deshalb gleich ein ins Lachen, als ich weiterlief. Zum Glück es hier dichtgedrängt, so mein auffälliges Verhalten im unaufhörlichen Strom von Menschen verschluckt und unterging.

In den engen Gässchen kam mir ein langer, dürrer, aufgeschossener Kerl entgegen, lächelte mich an, als wären wir bekannt und ging doch stumm weiter. Ha, lieber Franz Kafka, dachte ich, auch keine Schuldgefühle wegen nichts und wieder nichts brauchte ich mehr zu haben.

Überall drängten Stimmen zu mir, deren Sprache ich nicht verstand.

Angst und Bange empfand ich doch ein bisschen vor solch fremden Hürden. Aber egal, wahrscheinlich müsste ich mich mit noch größeren Widrigkeiten herumschlagen als bloß mit einer fremden Sprache.

Als ich am höchsten Punkt der fremdartigen Burg angekommen war, suchte ich, da etwas schwindlig vor Höhenangst, eine Zinne, durch die ich auf die Stadt hinabschauen konnte. In den engen Gassen und sternförmig sich ausbreitenden Straßen wimmelte es von unzähligen Menschen wie bei einem Ameisenhügel. In diesem Gewirr sah ich auch mich als einer von unzähligen, hin- und herwimmelnden Tierchen und mir wurde schwindlig zumute, als ich wieder über mein Leben nachdenken musste und ich musste wieder. Aber ich wusste nur: Das bist Du. Du hast es so gewollt! Hast deine Mitlehrer enttäuscht, deine Familie verraten, deine Freundin vor den Kopf gestoßen, alles dazu getan, um irgendwo am Rande eines Abgrundes zu stehen.

Und davor stehst du ja jetzt auch!

Ha, doch bist du nur eine dieser Tausenden von Ameisen da unten, nur eine, nichts Besonderes und darüber brauchst du kein großes Aufheben zu machen.

Doch das sagte sich so einfach.

Schnell verdrängen, die Angst!

Also schau sie dir bloß einfach an, diese Stadt, diese Ansammlung von Menschen. Zu Tausenden kommen sie hierher, um ein paar lausige Tage zu genießen, ha, und du hast Monate, vielleicht Jahre dazu, dieses Geschenk der Menschheit auf dein Gemüt, deine Seele und Inspiration wirken zu lassen.

Ich tat es.


*


Heute, wenn ich am Haus meiner Freundin vorbeigehe, sind die Fenster von heruntergelassenen Jalousien blind. Auf dem Vorplatz hat man einen Gebäudekomplex mit etlichen Wohnparteien hochgezogen, der den Blick in die Weite verdeckt. Aber das dürfte ihr ziemlich egal sein. Ihr gehört es, ihr Eigentum ist diese Wohnung. Auch wenn von dort aus nicht mehr der Horizont zu sehen ist. Auch wenn man einst Eigentum, jeder weiß dies, nicht mitnehmen kann, wenn ...


*


Meinen ehemaligen Freund und Berufskollegen habe ich in der U-Bahn gesehen. Mich erinnerte sein Lachen an die Geschichte von Professor Unrat, einer Adaption des Romans „Der Untertan“ von Heinrich Mann, worin Marlene Dietrich den Blauen Engel spielt, die einen Oberschul-Professor um die Nase wickelt und aus der Bahn wirft. Mein Freund schleppte einen zwei Zentner schweren Fress- und Saufbauch vor sich her, der mich an diesen Professor erinnerte. Ich unterließ es, meinen Bekannten anzusprechen.


*


Meine Mutter war mittlerweile gestorben. Was ich ahnte, geschah: Sie hatte mich nahezu enterbt.

Meine Mutter tat stets unglücklich. Ein Beamter, der an ihr interessiert gewesen war, wurde wegen einer Falschaussage einer Bekannten irritiert und auf eine falsche Spur geführt. Eine andere Aspirantin kriegte ihn. Meine Mutter war leer ausgegangen und kam nicht mehr als Heiratskandidatin in Frage. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Sie bekam nur einen Arbeiter. So ein Unglück!

Daran, an diesem Pech, knabberte sie ihr Leben lang.

Und ich ihr nicht den Wunsch erfüllte, den sie sich selbst verkneifen musste, nämlich einen Beamten in der Familie zu haben, verzieh sie mir bis ans Lebensende nicht.


Mutter und Freundin ist diese Geschichte gewidmet.



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (07.05.23, 13:37)
Schätze dich glücklich, du bist den Irren zunächst entkommen. Wie es jetzt weiter geht, das muß jeder aus sich selbst heraus gebären, weißt du ja.

Mein Lehrer Wolfgang Döbereiner bezeichnete jene, die entkommen, als die Inoffiziellen und lehrte eigentlich nur für diese, da die Offiziellen sowieso alles mißverstehen.
So ungefähr, ich war ja sein schlechtester Schüler ever. ...

also ... bravo!
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram