Familien - Grab
Bericht zum Thema Trauer/Traurigkeit
von Gabyi
Manchmal, wenn er auf dem Parkettfußboden seines Wohnzimmers saß, dachte er an das Familiengrab seiner Urgroßeltern zurück. Sein Blick schweifte dann in eine imaginäre Ferne in Richtung der kahlen weißen Wand, wo eigentlich ein Familienerbstück stehen sollte. Eigentlich, aber nun stand es doch im Hause seines Bruders.
Das Grab der Familie, dessen Bild dann vor seinem inneren Auge erschien, lag auf einem recht stattlichen Grundstück. Ein nicht unerheblicher Teil des Erbpachtarreals war schon seit längerer Zeit aus Amortisationsgründen eingeebnet worden. In diesem Grabteil lagen in besseren Zeiten zwei der Selbstmörder, weiblichen Geschlechts, der umfangreichen Familie seines Großvaters. Ihre Namen bleiben datenschutzbedingt ungenannt, wenngleich keiner mehr dieses Recht einklagen würde.
Beide Frauen waren der Form halber an Lungenentzündung verstorben. Ihre Gräber, ehemals mit zwei anmutigen weißen Marmorkreuzen verziert, beherbergten in seiner frühen Kindheit die aktuellsten Todesfälle der Familie und später dann die ersten Toten, die diese Gruft wieder verstieß. Die minimierte Verweildauer dieser unseligen Toten zwecks Kostenoptimierung unterstreicht den ruhelosen Lebensstil der beiden. Ihnen wurde nicht nur das kürzeste Aufenthaltsrecht von allen Verstorbenen der Familiengruft gewährt, auch das Leben hatte sie schnell wieder entlassen: die eine aus einer trostlosen Einsamkeit, die andere wegen einer unglücklichen Liebschaft namens Mesalliance nebst ungewürdigter Schwängerung.
Er hatte diese spezielle Ecke der Grabstätte schon immer für die Gemütlichste des kleinen Anwesens befunden. Eine Bank aus weiß lackiertem Holz lud zum Verweilen ein und eine junge Birke verschönerte die Aussicht zu den Nachbargräbern. Am Heiligen Abend pflegte die Mutter ihn mit den beiden Geschwistern zum Grab mitzunehmen, um hier den Abend gebührend mit Christgebäck und Weihnachtsliedern zu feiern. Wenn Schnee fiel, übertraf diese Feier alles Folgende, außer Geschenken, wenn sie denn gefielen.
Damals in jenem Sommer, als er nach langer Zeit wieder einmal seine Geburtsstadt besucht hatte, wusste er jedoch noch nichts von der Einebnung des Grabes. Erst ein kurzer Friedhofsbesuch brachte es ihm an den Tag und ließ ihn für kurze Zeit an seinem Erinnerungsvermögen zweifeln. Aber schon bald darauf fügte sich das Bild wieder in altgewohnte Familienmuster. Erleichtert fasste er wieder Vertrauen zu sich und fertigte ein Beweisfoto an zur Dokumentation seiner Beobachtung. Einen winzigen Augenblick lang überfiel ihn die flüchtige Vision von veräußertem babylonischen Gruftgold, doch schnell verbannte er den absurden Gedanken aus seinem offensichtlich überarbeiteten Kopf.
So hatte er beschlossen, sich bei den noch lebenden Eltern, die das Grab verwalteten, nach dem Verbleib der weißen Marmorkreuze samt Planierung des Grabstückes zu erkundigen. Eine kurze Anfrage über das Verschwinden besagten Totenbeiwerkes, geknüpft an die obligatorische Frage nach der wahren Todesursache hatte jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. Abgesehen von der Feststellung einer beginnenden Demenz der Mutter erhielt er keine weiteren Informationen zu seinen Fragen. Mit einigem guten Willen konnte ihm dies allerdings auch schon eine gewisse Erklärung liefern. Natürlich hätte er nie wirklich eine ehrliche Antwort erwartet, aber Alzheimer hatte ihm wenigstens den Schatten einer Nähe zur Wahrheit anbieten und seinen Unmut lindern können.
Zu gern hätte er damals die beiden Kreuze als Schmuckdekoration in seine großzügig geschnittene, doch ziemlich leere Altbauwohnung eingefügt. Aber dann musste er den Gedanken schnell wieder verwerfen. Die Stelle, an der in bürgerlichen Haushalten das Sofa stehen könnte, wäre der ideale Ort für die feinen, wenn auch schon moosbewachsenen Marmormonumente gewesen. Jetzt aber stand hier - nichts - und er besaß weder das eine noch das andere.
Und eigentlich war es ihm ganz recht so.