Rachedurst

Text zum Thema Rache

von  KayGanahl

Alles ist nur eine Frage der Zeit.

Es gibt Racheengel. Sie sind unter uns. Alldieweil wissen sie eben, alles im Verborgenen zu halten. Manchmal erwecken sie erfolgreich den Eindruck, als wäre gar nichts. Wer oder was sie quält? Keine Ahnung. Die Mitbürger, sogar Familie, erahnen nicht selten nichts. Die Racheengel leben auf jeden Fall ihr Leben weiter, möglichst unauffällig – und zum Nutzen der Allgemeinheit, die vielleicht auf ihre Arbeit angewiesen ist. Man hält sie meist auch tatsächlich für normal, zumindest weitgehend.

Also: Racheengel sind jedenfalls in ihrer Gefährlichkeit fast kaum zu erkennen.

Alles ist nur eine Frage der Zeit! Das steht wohl geschrieben in den Gehirnen vieler Menschen, die darauf warten, sich rächen zu können. Sie verhalten sich zum Eigenschutz sehr clever und lassen über ihre Absichten wenig oder nichts verlauten. Das Thema Rache wird in Gesprächen nur selten angeschnitten. Das Sich-Rächen wird dann natürlich als etwas Zweifelhaftes von ihnen kommuniziert. Es sei allgemein als moralisch verdammenswert zu betrachten. Damit liegen sie mit ihren Meinungsäußerungen zu diesem Thema vermutlich im Rahmen der Mehrzahl aller Bürger, die eine Meinung vertreten.

*

Am Vormittag eines Werktages im Frühjahr.

Auch Erlach, ein Bürger unserer Zeit und clever in Geschäften, immer auf seinen Vorteil aus, verhält sich so, redet so unauffällig. Das liegt auch daran, dass er etwas höher intelligent ist. Hier sehen wir ihn stehen –

schönes Wetter, wunderbar!

Wer ihm geschadet hat, meint dies allerdings nicht. Erlach wurde kürzlich schon wieder …, wird angelegentlich als dümmlicher Mensch hingestellt. Das kann er gar nicht ausstehen! Sogleich kommen entsprechende Gefühle auf, verätzen seine Stimmung für unbestimmte Zeit. Der emotionale Schaden war in diesem letzten Fall aufgrund dessen natürlich beträchtlich. Ein solcher Schaden muss stets bewusst und rational analysiert werden, sonst frisst sich der Schaden zu tief in die Gefühlswelt ein. Aber er denkt nun einmal irrational an sie, die Rache - immer und immer wieder. Gefühlsterror. Er ist unvermeidlich. In diesem letzten Fall ist sein Nervenkostüm stark und dauerhaft als gefährdet anzusehen, also hat sich die Rache in ihn schon frühzeitig relativ tief hineingefressen! Wahrhaftig Gefühlsterror!

Ohne dieses „Hinstellen als“ wäre seine Gefühlswelt nicht gerade rosarot, aber längst nicht so angegriffen. Sie war übrigens, das sei mitgeteilt, schon immer voller Störungen. Alle Barrieren im Leben, die es nur geben konnte und ihn an der freien Persönlichkeitsentfaltung hinderten, galten ihm stets als etwas besonders Lästiges, daher völlig Überflüssiges. Das Feststellen von Fehlern und die rationale Fehlerbeseitigung, auch von eigenen Fehlern, beschäftigten ihn sehr stark. Er begann irgendwann Fehler abgrundtief zu hassen. Jedwede Nachlässigkeit im Tun konnte er nicht ertragen. Wenn sie trotzdem aufgekommen war, brach er meist schnell wieder ab, was er begonnen hatte. Nachlässigkeiten bei der Arbeit hasste er wie die Pest, aber das galt im Grunde auch für zum Beispiel kleinere Haushaltstätigkeiten.

Schäden an seiner Psyche und Physis, so war er eigentlich immer entschlossen, wollte er nach Möglichkeit verhindern bzw. vermeiden! Das gelang nicht immer. Das wird nicht immer gelingen können!

*

Seit Stunden steht er auf der Terrasse des Gebäudes, in dem er vorübergehend wohnt. Der Blick von hier aus ist einer in die Natur und auf die Dächer der Stadt. Er hat hier wirr hingestellte Stühle vorgefunden und lächelt grantig vor sich hin. Jetzt hat er sich auf einen Stuhl gesetzt. Endlich! Es gibt Vorfälle, aber nicht hier vor Ort. Das ist schon einmal gut. Er fühlt sich nicht angegriffen, nicht einmal beobachtet. Keine Frage: Er fällt nicht auf. Hier ist im Moment übrigens sonst niemand. Und in seinem Appartement schläft außer ihm niemand. Das ganze Gebäude hat sicher nur wenige Gäste, Besucher und Personal. Bei seinem Einzug am gestrigen frühen Nachmittag, nachdem er mit dem Zug in den kleinen Bahnhof der Stadt eingefahren war, hat er das Geschirr und alles andere brav gemäß Liste kontrolliert. Nichts hat gefehlt.

Die Zeit drängt meistens, aber in diesen Stunden des Durchatmens am Morgen und Vormittag glücklicherweise nicht! Das Berufsleben fordert ihm einiges ab. Die Forschungsarbeit hier vor Ort wird morgen angefangen. Er befindet sich in der Stadt eines der großen Dichter des Landes.

Das wissenschaftliche Forschen bedeutet Erlach wahrlich viel. Auf jegliche Grübelei über Störungen, welche auch immer, kann er bestens verzichten. Seine Forschungen wird er fachlich kompetent beginnen, hier vor Ort fortführen und späterhin wahrscheinlich auch zu einem erfolgreichen Ende bringen. Beruflich sieht er sich als Vollprofi.

Ist er denn wirklich ein Engel der Rache?

*

Die Racheengel sind meistens ungemein gewieft.

Sie haben die nötige Zeit, um den richtigen Moment abzuwarten. Alles ist also eine Frage der Zeit und auch der GEDULD! Die Zeit brauchen sie auch, warten auf den richtigen Moment. Sie wollen, dass ihr Opfer wie geplant getroffen wird. Darum geht es vor allem.

Aber: Manche wollen ungestraft davonkommen. Dies ist allerdings nicht ganz einfach! Ein Verbrechen muss sehr gewissenhaft, akribisch und zeitbezogen geplant und durchgeführt werden. Gerade auch ein Akt der Rache. Das ist so. Es geht nicht anders. Wer anders denkt, geht fehl, wird scheitern. Scheitern sollte erst gar nicht eingeplant werden. Ein jedes Scheitern schadet der psychischen Gesundheit bestimmt.

Das meint Erlach nämlich auch. Er sitzt schweigend auf seinem Terrassenstuhl und würde am liebsten eine Zigarette rauchen, verkneift es sich jedoch. Alles, was seiner Gesundheit schaden könnte, hat er abgeschafft; nicht alles, aber fast alles. Seine Blicke über die Dächer hinweg auf die Natur, die sich in bewaldeten Hügeln mit Bäumen und Sträuchern und Wiesen zeigt, sind für ihn reine Erholung. Ein wenig neugierig versucht Erlach Menschen zu sehen, in der Nähe und in der Ferne. Doch nur ganz wenige kann er mit seinen Augen erfassen. Dieser Tag ist weitgehend frei von Mitmenschen. Aber das Thema Rache beschäftigt ihn nun doch wieder verstärkt. Es nimmt ihn mit, emotional; seine Gänge durch die eigene Psyche sind gleichzeitig solche durch die Welt seiner etwas bösen Gefühle …

Nicht jeder kann erkennen, dass es eine Nachwelt der Menschen gibt, die Taten der Rache beurteilt und bewertet. Da gibt es eine Medienöffentlichkeit, die zu beeinflussen eventuell vonnöten sein könnte. Nicht für jeden Racheengel ist es wünschenswert, dass ein Akt der Rache nicht als Verbrechen gesehen wird. Das völlige Nicht-erkennen eines Verbrechens ist ein Ziel, welches nur ganz selten erreicht wird. Dies zur Statistik. Insgesamt ist der Komplex Rache etwas äußerst Kompliziertes. Man muss das sehen.

Erlachs Gedanken drehen sich immer wieder um das Thema, welches er doch am liebsten ganz meiden würde. Wird er es denn nie los werden? Und er stöhnt auf, sollte wieder aufstehen, sich die Füße unten auf den asphaltierten Wegen um die Museen herum vertreten, durchaus auch in diese gehen, um dann die bösen Gedanken und Gefühle zumindest in irgendeine Ecke seines Bewusstseins zu verbannen. Er hat zu forschen! Er muss vor Ort keine Rache üben!

Wann genau der Moment zur Durchführung eines konkret-tatsächlichen Aktes der Rache eintritt, ist oft offen, - manchmal völlig ungewiss. Planungen werden natürlich gar nicht selten schlampig durchgeführt. So mancher meint, auf eine Planung verzichten zu können, was falsch ist. Aber die Emotionen können so gewaltig drängend sein, dass Planung praktisch kaum möglich zu sein scheint. Das liegt am überwältigenden Rachedurst! Folge: Ungestraft davonzukommen ist fast unmöglich. Rache, die als Verbrechen nicht zu erkennen ist, ist es ebenfalls.

Es dürstet die Rächer oft sehr danach, sich an bestimmten Personen persönlich zu rächen. Als solche sind sie dann sehr ungeduldig, können es kaum abwarten. Emotionale Selbstkontrolle erscheint in diesem Licht als nahezu unrealisierbar. Die innere moralische Barriere gegen die Durchführung von Rachehandlungen, so denn jemals gegeben, wird jedenfalls im Laufe dieses Wartens kontinuierlich niedriger. Vielleicht hatten sie früher gar keine „Rachegelüste“. Jetzt jedoch ist der Durst danach so groß geworden, dass moralische Fragen noch nicht einmal mehr gestellt werden. Nach leichten, bzw. möglichst ungefährlichen Wegen der Durchführung, Mitteln und Möglichkeiten, wird gesucht …

*

Erlach sitzt noch auf der Terrasse. Der Anblick der Landschaft und der vielen Gebäude ist berückend. Indem er sie genauer anschaut, versucht er sich einfach gut zu fühlen - , zumal das Gute im Denken und Fühlen zu finden.

Von der Terrasse aus, dort ruhig sitzend, kann er am besten auf die Dächer der Gebäude an der Fußgängerzone blicken. Die Kleinstadt mit einer kleinen Fußgängerzone mag er. Mit der nun aufgekommenen freundlichen Sonne kommt allerdings kein Gefühl des „Los geht’s!“. Er lächelt sich durch die Minuten, Viertelstunden, halben und ganzen Stunden, findet sodann einen inneren Ruhepunkt, den zu verlassen er vorerst nicht gewillt ist.

Den Ernst der persönlichen Situation, in der er sich gegenwärtig befindet, könnte er durchaus nicht erkannt haben. Dass Rache ihn tödlich bewegt, sollte ihm bewusst sein. Sehr bewusst. Dies ist es ja auch! Aber wie sehr sie ihn schon emotional besetzt, also im Griff hat, könnte ihm eben noch nicht ganz klar sein. Ist er etwa im Gefühlschaos versunken? Erlach lächelt vor sich hin.

Gibt es jetzt Gründe für ein Spazierengehen auf der Höhe, auf welcher das Hotel-Gebäude steht, in welches er eingecheckt hat? Spazieren gehen befreit ihn nicht vom Nachdenken, von Gefühlen der Rache, es ermöglicht aber ein freieres, leichteres Nachdenken ohne Grübeln. Gern würde er sich in leicht flockigen Gedanken verlieren, in angenehmen Gefühlen baden - und alle Probleme schnellstens vergessen.

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Besagter Herr Erlach hat inzwischen einen Rundgang durch das Gebäude gemacht. Es gefällt ihm. Viele Menschen hat er nicht gesehen, dies gefiel ihm allerdings besonders. In diesem Moment nimmt er die geöffnete Terrassen-Schiebetür aus Glas wahr. Ein Herr mittleren Alters sitzt auf der Terrasse und guckt, wohl ganz fasziniert, in Richtung der Hügellandschaft und der Kleinstadthäuser. Erlach, der ihn von hinten sieht, würde ihn ansprechen wollen, aber er kann sich dazu nicht entschließen. Vielleicht später. Deshalb setzt er seinen Rundgang fort. Seinen sehr negativen Gedanken und Emotionen will er schnellstmöglich mit rationaler Analyse entgegentreten.

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Rache?! Die Rache ist etwas aus der Vorzeit der Zivilisation Kommendes, dem auch die Heutigen gerne folgen. Sie lässt nämlich innere Befriedigung erhoffen – zumindest dies! Es ist die Erwartung, dass durch Rachehandlungen eine Art Ausgleich des Leides erzielt werden wird. Hast du mir Leid zugefügt, so füge ich dir ebenso welches zu. Rache ist simpel erklärbar.

Der, der sich als das Opfer anderer sieht, meint nämlich zurückschlagen zu müssen; das ist dann ein Muss, ohne welches gar nicht weitergelebt werden könne. Die Glocken läuten Sturm, sobald der Moment gekommen ist!

Jeder Mensch weiß um dieses Problem der Rache, kennt mehr oder weniger derartige Emotionen, gibt es aber äußerst ungern zu. Wichtig ist besonders: Jede mögliche Hinwendung zur tatsächlichen Anwendung von Gewalt gegen Menschen wird möglichst geheim gehalten.

In der „Friedensgesellschaft“ des demokratischen Westens gibt es Bürger, die von ihnen als potenzielle Gewalttäter erkannte Personen gezielt angreifen, damit dieselben öffentlich gebrandmarkt werden. Die tun sie oft aus voller Überzeugung, richten Unheil an, lösen gar erst die Gewaltbereitschaft bei diesen „Potenziellen“ aus, ohne dies auch nur zu ahnen.

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„Was gekommen ist, geht auch wieder – außer hier, vor Ort!“ sagt Erlach leichthin mit dem Sinn für den kultivierten Un-Sinn und rülpst. Er steht in einem Flur des Gebäudes, der durch weite Glasflächen leichte Blicke auf die Gebäudeteile ermöglicht. Kann er weiter - ? Er hat auf der Terrasse fast eine halbe Flasche billige Orangenlimonade getrunken. Keine fünf Minuten hat das gedauert. Kann er weiter - ?! Sein Hang zur Philosophie verschafft sich immer wieder einen klaren Ausdruck dadurch, dass die Zeit als viel zu knapp gesehen wird, aber das Leben als viel zu lang. Die Rache ist mein, so hätte er vermutlich gern einmal offen ausgesprochen, es vielleicht gar ausgeschrien. Hingegen wäre ihm das schlecht bekommen. Denn dies hätte die Hausleitung im vorderen Eck des Gebäudes, in dem er mit Wenigen derzeit wohnt, bestimmt gehört … Erlach muss sich übergeben …

Noch kann er aufrecht stehen.

„Absurdität ist das, deutlich …!“ flüstert er anschließend. Weil nämlich alles Rächen in Wirklichkeit keinen Sinn macht: Es ist ein Rechtsbruch, sofern Gesetzesparagraphen verletzt werden. Als wäre das nicht bekannt! Es kommt bei den Mitbürgern generell moralisch schlecht an, sofern sie darüber nachdenken. Sicher, ab und zu könnte es vorkommen, dass jemand Racheakte nachvollziehen kann – das Ähnliche getan, aber vielleicht sogar besser getan hätte. Das auch. Anderes auch. Viel anderes auch. Des Herrn Erlach Aufenthaltszeit im Gebäude ist begrenzt, was weniger gut für seine Vernunft ist …

Mittags. Die Gefühle, die ihn belasten, will er in den Griff kriegen, indem er sich, wieder dort, wo der andere Gast gesessen hat, einen Terrassenstuhl greift, um dann mit diesem zu dem Park mit dem Denkmal des großen Dichters deutscher Zunge und deutscher Feder zu schlendern, so langsam wie möglich, so wenig entschlossen wie möglich, weil er entspannen muss. Er geht. Er geht langsam, weiter und weiter – Wo ist denn sein Ziel? Den Stuhl hält er in der rechten Hand. Noch befindet sich Erlach im Gebäude.

Erlach wird inzwischen von Hunger geplagt, da trifft er zufällig, ohne es zu wollen, auf einen weiteren (!) Menschen, der im Gebäude aus irgendwelchen Gründen sein Zelt aufgeschlagen hat, - auf der Terrasse jedenfalls nicht, auch nicht im Foyer, im Aufenthaltsraum mit TV, in der großen Gemeinschaftsküche usw. Dieser Herr mit Gehstock im Design des „Schiller’schen“ lächelt freundlich wissend zurück, als würde er sagen wollen, dass in der ganzen Anlage nichts los sei. Ganz einfach! Und Erlach setzt, nachdem er freundlich genickt hat, langsam seinen Weg fort, um den Park zu erreichen.

Er lächelt gehend. Der Park kommt in Sicht. Auf dem kürzesten Wege, aber langsam, geht er auf ihn zu.

*

Erlach hat sein Leben noch nicht gelebt, dessen ist er sich sicher. Wie alt ist er denn auch schon! Lächerlich! Er will noch viel älter werden. Dies hat er sich vor Jahren fest vorgenommen. Die Neunzig peilt er an. Jetzt müsste er eigentlich zum Forschen in das Nachbargebäude abgebogen sein (mit oder ohne Stuhl), stattdessen hat er nun den Park erreicht und seinen Terrassenstuhl mitten auf die Parkwiese gestellt, setzt sich auf ihn und dämmert vor sich hin.

Ein wie auch immer geartetes Sterben mit anschließendem Exitus braucht er wahrhaftig nicht. Weshalb …

*

Anderntags im Nachbargebäude vernimmt Erlach, nachdem er endlich zur Arbeit geschritten ist: „Die Artikel können Sie sich in einer halben Stunde bei mir abholen!“



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (09.06.23, 14:07)
Sehr, sehr verplapperter Text, gekonnt "um den heissen Brei herumgeredet", wie man so schön sagt,
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