Die meisten meiner Stadtfreunde kannten die Konsistenz von Hühnerkacke nicht. Ich hingegen war gut mit ihr vertraut – kannte ihren halbflüssigen wie ihren festen Zustand.
Als Kind habe ich oft auf dem Hühnerhof meiner Großeltern gespielt. Für den Grad an Wachsamkeit, den meine Großeltern meiner Schwester und mir dabei zukommen lassen mussten, war der Hühnerhof ideal: Ein umzäuntes Areal mit pickenden, meist friedfertigen Tieren, die mehr Angst vor einem Fünfjährigen hatten als er vor ihnen. Scherte ein Tier aus der Reihe, machte Großmutter Marga kurzen Prozess: So fielen mehrere stolze, aber draufgängerische Hähne den großelterlichen Erziehungsmaßnahmen zum Opfer.
Seit ich denken kann, klebt Hühnerkacke an der Geschichte meiner Familie: An meinen Schuhen als Fünfjähriger, und an den Schuhen von Großmutter Marga ein viertel Jahrhundert später.
So auch an einem Tag im August.
Marga konnte, wie häufig in letzter Zeit, nicht mehr schlafen. Nacht für Nacht bekam sie diese Zustände. Nacht für Nacht kroch die Panik aus ihrem geblümten Kissenbezug unverblümt in ihren Hinterkopf. Und wenn sie dann doch mal eingenickt war, wachte sie nur wenig später schweißgebadet wieder auf. Ihr Herz galoppierte in ihrer Brust als wäre es auf der Flucht. Ihr Herz, ihr ganzer Körper wussten das. Marga wusste das nicht. Sie schleppte sich durch einen weiteren eintönigen Tag, kochte für ihren Lebensabschnittsgefährten, wusch ab, putzte die Fenster, fütterte die inzwischen stark dezimierten Hühner im Hühnerhof meiner Kindheit – kurzum sie verausgabte sich und ging ganz in ihrer Rolle als Hausfrau auf - und schließlich unter.
Am Nachmittag in einem Moment größter Sorglosigkeit verkündete Marga, dass es nun Zeit für die Hühner sei, in den Stall zurückzukehren. Dort verbrachten sie, behütet vor dem bösen Fuchs, die Nacht. Auch diese Arbeit nahm sie Gustav ab, der mit seinen 90 Jahren nicht mehr so gut zu Fuß war.
Marga stand auf, ging in den Hühnerhof und trat auf ihrem Weg zur Hühnerklappe gewohnt gleichgültig in ein kleines Häufchen Hühnerkacke, das an ihrem Schuh kleben blieb. Die Klappe befand sich auf der Rückseite des Stalls – sodass Gustav Marga zwar nicht mit seinen wachsamen Augen folgen konnte, aber die für sein Alter beeindruckend intakten Gehörgänge vernahmen schließlich nur wenige Sekunden nachdem Marga die Befestigung gelöst hatte, das Aufprallen der Hühnerklappe auf dem Boden, womit sich der Durchgang für die Hühner schloss.
Es war lau und angenehm an diesem Augusttag und Gustav beschloss, noch eine Weile draußen sitzen zu bleiben und auf Marga zu warten. Vereinzelt zogen aufgetürmte Wolken vorbei, eine Amsel nahm Platz auf einem Zaun und begann, den Abend einzuleiten.
Marga kam nicht zurück. Gustav fing an, sie zu rufen. Marga antwortete nicht. Gustav begann sich aufzurappeln und die schmerzenden Beine gen Hühnerhof in Bewegung zu setzen. Er zog mühevoll an dem eisernen Eingangstor, um den Hof zu betreten. Auch seine Schuhe streiften das von Margas entschlossenem Tritt bereits breitgeschmierte Häufchen Hühnerkacke. Auch an seinen Schuhen blieb etwas kleben – als er sie plötzlich erblickte. Ihr Körper war seltsam geneigt, ihren Hals zierte ein Seil und ihre Zunge hing aus ihrem Mund. Ihre Schuhe berührten den Boden kaum mehr.
An ihren Sohlen haftete Hühnerkacke, in halbflüssigem Zustand.