Anfangs waren die Termine beim Internisten für Anders ein seltsamer Nervenkitzel. Die sterile Kühle des Wartezimmers, das Rauschen des Blutes in den Schläuchen bei der Blutentnahme, die messerscharfe Präzision der medizinischen Fachbegriffe, die sich wie kryptische Codes in seinen Kopf einbrannten - all das hatte etwas von einer Herausforderung, einem fast schon spannenden Abenteuer in den Tiefen des eigenen Körpers. Doch als die Werte besser wurden, als die Viruslast sank, wurde der Nervenkitzel zur Routine. Die Helferzellen waren wie tapfere Soldaten, die sich unaufhaltsam vermehrten, während das Virus, der Feind, sich zurückzog. Der Krieg war noch nicht gewonnen, aber die Schlachten schienen entschieden. Die Tage wurden heller, die Gedanken klarer.
So auch an diesem Tag. Das Gespräch mit dem Arzt verlief wie immer: sachlich, nüchtern, die Zahlen ermutigend. Anders war gesund - oder zumindest so gesund, wie es in seiner Situation möglich war. Gut gelaunt trat er auf den langen Flur hinaus und spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Der Flur war weit und kühl, seine Schritte hallten leise auf dem gefliesten Boden. Bald würde er draußen sein, in der warmen Herbstluft, bereit für den Rest des Tages, der in seiner Struktur fast gemütlich war - ein Kaffee, ein Treffen mit Freunden. Normalität.
Doch dann sah er es. Eine offene Tür, kaum größer als ein Spalt. Instinktiv blieb er stehen, und was er dahinter erblickte, ließ ihm das Herz stehen.
Da lag ein junger Mann, nicht älter als Anfang 20, auf einem schlichten Krankenhausbett. Seine Haut, die sich über den Wangenknochen spannte, war ungesund rot, fast fiebrig, als würde das Leben aus ihm herausbrennen. Die Augen geschlossen, der Atem schwer, als müsse jeder Atemzug Sauerstoff ihn zwingen, noch eine Weile auszuharren. Anders konnte den Zustand des Körpers fast riechen, diesen Geruch von Verzweiflung und Sterilität, der in der Luft lag.
Neben ihm saß eine Frau, kaum älter als vierzig, auf einem einfachen Hocker. Ihre Beine waren eng aneinandergepresst, als müssten sie ihren ganzen Körper davor bewahren, auseinanderzufallen. Ihre Hände lagen ineinander verschränkt auf den Knien, als hätte sie sich in einem stummen Gebet verloren. Aber in dieser Haltung lag kein Glaube, kein Trost, nur eine tiefe, unsichtbare Erschöpfung. Ihr Blick war zu Boden gerichtet, und die Schwere in ihrem Gesicht zog alles in sich hinein. Sie sprach nicht, sie bewegte sich nicht, sie saß nur da, eine stumme Statue der Trauer.
In dieser nur wenige Sekunden dauernden Begegnung spürte Anders etwas, das ihn innerlich zerriss. Die Stille war ohrenbetäubend. Er konnte den Schmerz in diesem Raum fast mit Händen greifen, er spürte, wie er sich in ihn hineinfraß, ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre. Die Zeit selbst schien stillzustehen, ein stummer Schrei, der die Widersprüchlichkeit der eigenen Existenz klar umriss.
Wie nahe Glück und Verzweiflung, wie nahe Leben und Tod. Anders hätte nicht länger dort stehen dürfen, das wusste er, aber seine Füße blieben wie angewurzelt. Und dann setzte er sich wieder in Bewegung, fast reflexartig. Schritt für Schritt entfernte er sich von der Szene, doch etwas hatte sich in ihm festgesetzt, ein Bild, das sich nicht verdrängen ließ, so tief er es auch hinunterschlucken wollte.
Draußen, in der Freiheit der kühlen Luft, spürte Anders, wie ihm ein tiefer Schauer über den Rücken lief. Er würde nie vergessen, was er gesehen hatte. Und während er die Menschen um sich herum beobachtete, die ahnungslos ihrem Alltag nachgingen, dachte er daran, wie zerbrechlich das alles war, wie leicht es zerbrechen konnte. Ein Glück, das auf dem schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Hoffnung balancierte - eine schwindelerregende Nähe, die man erst begreift, wenn man kurz davor steht, in die Tiefe zu stürzen.
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