Mir sind im Nachhinein noch mehr Milchgeschichten aus unterschiedlichen Epochen meines Lebens eingefallen. Schon merkwürdig, dass ausgerechnet Milch eine so herausragende Rolle in meinem Leben spielte. Warum nicht Kohlrabi oder Nudeln? In der Rückschau haben alle Geschichten einen etwas melancholischen Unterton. Ja, stimmt, es war einfach so damals.
Man kann es sich kaum vorstellen: Es gab in den 50er Jahren am Ostsee-Strand von Heiligendamm frische Milch in Glasflaschen. Ob wir sie dort kaufen konnten oder ob wir sie von zu Hause mitbrachten (was ich mir eigentlich nicht vorstellen kann), weiß ich nicht mehr. Ich wüsste nicht, wie man sie über Stunden in der sommerlichen Hitze kühl halten konnte. Aber ein Beweisfoto existiert noch: Meine Tante, meine Mutter und ich sitzen vorm Strandkorb und trinken die Milch direkt aus der Flasche, haben wegen der Sonne die Augen zugekniffen und müssen dabei furchtbar kichern. Die Aufnahme dauerte nämlich eine ganze Weile. Man brauchte ja einen Belichtungsmesser, die Blende und die Belichtungsdauer mussten eingestellt werden, die Entfernung musste berechnet werden. Und so lange lief die Milch in unseren Mund, die wir nicht runterschlucken durften, denn es war nur noch wenig Milch in der Flasche. Und es sollte ja ein echtes Milchbild werden. Sie wurde schleimig und eklig, wir bekleckerten uns vor unterdrücktem Lachen, es war eine Tortur. Aber mein Vater, wollte unbedingt dieses Foto von uns haben!
Unschicklich war es obendrein so Anfang der 50er Jahre: Frauen, die in der Öffentlichkeit aus der Flasche trinken, dabei lachen und sogar noch ganz ungeschickt Milch verkleckern! Unerhört! Aber am Strand galten für uns andere Regeln, da darf man das, was sonst verpönt ist, dachten wir. Ich war noch ein Kind, etwa 6 Jahre alt.
Milch war schon immer ein Familiengetränk. Von meinem Vater wird erzählt, dass er immer mit einer Milchkanne mit zwei Litern Milch auf den Tennisplatz kam. Die trank er im Laufe des Tennismatchs aus. Heute undenkbar! Milch war für uns eher eine Möglichkeit zum Durstlöschen als ein Lebensmittel. Und es war gesund, wurde gesagt. Die Vorbehalte gegen Milch, die man heute hat, kannten wir nicht.
Am Morgen vor der Schule gab es für mich warme Milch zum Frühstück. Warme Milch war ja in Ordnung, aber die Haut! Ich grauste mich davor und konnte sie nur mit Widerwillen trinken. Dieses schlabbrige Etwas in meinem Mund – furchtbar! Ich zankte mit meiner Mutter, die aber darauf bestand, dass ich die Milch mit Haut trinken müsste. Eines Tages fiel mir ein schlagendes Argument gegen das Milchtrinken mit Haut ein. Triumphierend rief ich: „Was kann ich denn dafür, dass mich Gott so geschaffen hat, dass ich keine Haut mag?“ Ich dachte, dass meine Mutter dagegen nichts sagen konnte, dass sie übertrumpft war. Aber weit gefehlt. Jetzt bekam ich wegen dieser, in den Augen meiner Mutter, frechen Antwort erst recht Ärger. Meine Mutter schimpfte fürchterlich mit mir, und ich litt still weiter, jeden Morgen. Eines Tages kam unerwartete Hilfe – wir zogen in eine größere Wohnung und meine Großmutter zog ebenfalls mit uns ein. Sie trank gerne ihren Kaffee mit Milch, und meine Milchhaut leerte sie mit Freuden dazu. „Gib sie her, die Hex‘,“ ermunterte sie mich. So wurde ich die Haut-Hex’ endlich los. Meine Mutter beobachtete das Ganze argwöhnisch. Ich denke mal aus heutiger Sicht, dass sie sich in ihrer Autorität geschmälert vorkam.
In meiner Schulzeit gab es Schulmilch. Jedes Kind konnte eine Flasche Milch oder Kakao in der Pause bekommen. Manchmal hatte der Hausmeister sie auch erwärmt. Die Kästen mit Milch oder Kakao standen vor seinem Büro im Schulflur. Was das kostete, wie bezahlt wurde, weiß ich nicht mehr. Ich glaube auch, dass ich keine Milch in der Schule trank. Dafür hatten wir ja zu Hause eine Milchfrau, bei der ich regelmäßig einkaufte. Aber an die mit dicken Decken abgedeckten Kästen mit den vielen Flaschen in meiner Schulzeit kann ich mich gut erinnern.
Ich war für ein paar Wochen bei einer kinderlosen Tante und ihrem Mann zu Besuch. Ich vermute, dass meine Eltern unseren großen Umzug in eine neue Wohnung ungestört über die Bühne bringen wollten. Da wäre ich nur im Weg gewesen. Ich denke, ich war etwa 7 Jahre alt. Die Tante und mein Onkel meinten es gut mit mir. Ich durfte zum Beispiel in die Pumps meiner Tante schlüpfen und damit in der Wohnung herumstöckeln. Mein Onkel ließ mich von seinem abendlichen Rotwein nippen und die Tante ließ mich widerstandslos Kondensmilch trinken, bis mir fast schlecht wurde. Alles Dinge, die meine Eltern mir nicht bieten konnten (oder wollten). Wenn ich heute daran denke, überkommt mich ein Grausen. Besonders wegen der Kondensmilch. Was hab ich nur damals für einen abartigen Geschmack gehabt? Als meine Mutter mich bei Onkel und Tante abholen wollte, fiel sie vor Schreck fast um. Mir passte nichts mehr, kein Kleid, keine Hose, nur ein gestricktes Trägerröckchen umspannte notgedrungen meinen dick gewordenen Bauch. Von da an war Schluss mit der Kondensmilchmästerei. Und Stöckelschuhe und Rotwein gab es erst recht nicht. Da war meine Mutter eisern, und ich war traurig, weil ich mal wieder alles falsch gemacht hatte.
Selbst als Studentin hab ich viel Milch getrunken. Und da ich keinen Kühlschrank hatte, stellte ich die Milch („Schlauchmilch“) in einem Behälter draußen aufs Fensterbrett. Ich bewohnte ein Dachzimmer im 4. Stockwerk. Nur, eines Tages, als ich von der Uni heimkam, war die Milch weg, weggeweht, wie ich vermutete. Unten vor unserem Haus befand sich eine Bushaltestelle. Ob die offene Schlauchmilch jemandem vor die Füße gefallen oder auf den Hut, die Mütze oder einfach auf den Kopf gefallen war? Ob sie überhaupt noch gut oder schon sauer beim Runterfallen war? Ungelöste, drängende Fragen. Ich hab mehrmals den ganzen Bürgersteig abgesucht, den Vorgarten auch – keine Spur von meiner Milch oder dem Behältnis, in dem die „Schlauchmilch“ auf dem Fensterbrett stand. Es war beunruhigend. Immer wieder geht mir diese ungelöste Frage durch den Kopf. Das ist jetzt gut 50 Jahre her.
Meine erste Arbeitsstelle nach dem Studium war an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg i.Br. Ich war wissenschaftliche Assistentin, war zwar an der Universität fachwissenschaftlich gut ausgebildet, aber mir fehlte die Schul-Praxis. An der Pädagogischen Hochschule, also meiner ersten Arbeitsstelle, hatte man es mit angehenden Lehrerinnen zu tun. Ich sollte in den Augen meiner Professorin auch auf diesem Gebiet für die Studenten Vorbild sein. Eines Tages verlangte meine Professorin geradezu überfallartig von mir, dass ich unter ihrer Aufsicht eine Schulstunde zum Thema „Milch“ aus dem Ärmel schütteln solle. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, und entsprechend verkrampft und einfallslos benahm ich mich. Vor ihren Augen im Institutsgebäude am Schreibtisch kam mir nicht die geringste Idee, wie ich eine Unterrichtsstunde „Milch“ gestalten sollte. Was sollen denn Schüler in der 7. Klasse wissen über Milch? Und wie bringt man es ihnen bei? Ich musste erst darüber nachdenken können und Material sammeln dürfen. Ich brauchte Zeit. Die Professorin jedoch ließ nicht locker, sie wollte auf der Stelle, dass ich eine Unterrichtsstunde konzipierte. Aus mir jedoch kamen nur tröpfchenweise kleine jämmerliche Gedanken hervor. Mir war zum Heulen zumute, mein Gehirn war dunkel und leer. Da versuchte es meine Professorin mit einem Spaziergang durch den nahen Wald – damit ich lockerer würde. Es war demütigend, hat aber ein wenig geholfen. Ich weiß nicht mehr alle Einzelheiten. Aber irgendwann stand dann die „Milchstunde“, auf für mich grausame Weise erkämpft. Ich habe die Stunde dann auch vor der 7. Klasse gehalten und später dann immer wieder, auch an anderen Schulen - sie wurde damals seltsamerweise zu einer meiner besten und vielfach gut benoteten Unterrichtsstunden. Ich hab sie also „ausgeschlachtet“, so gut es ging. Und doch behielt sie einen bitteren Beigeschmack.