Kindersehnsüchte

Text

von  tulpenrot

Durch Zufall entdeckte ich in der obersten Etage des großväterlichen Hauses Teile einer Modelleisenbahnanlage. Nein, ich durfte sie nicht näher anschauen, schon gar nicht alleine, hieß es. Ich stellte mir vor, wie eine solche Bahn wohl aussehen könnte, wenn sie auf richtigen Schienen stand, wie sie auf ihnen davonfuhr und nach einer Kurve wieder zurückkam. In meiner Phantasie hörte ich sie rattern und schnaufen, anmutig und ganz selbstbewusst ankommen. Und jemand könnte sie bedienen und regeln, wann sie halten oder weiterfahren soll.

 

Ich mochte auch sonst für mein Leben gern mit dem Zug fahren. Ausgedehnte Zugfahrten gehörten seit jeher zu meiner Kinderwelt. Meine Eltern waren mit mir vor allem im Sommer lange, sogar tagelang, unterwegs, um von Oberbayern oder später vom Ruhrgebiet aus zu den Großeltern an die Ostsee zu fahren. Das war Mitte der 50er Jahre. Es roch immer so schön fremd in den Zügen oder zumindest interessant anders, vor allem in den Interzonenzügen. Sie waren auch sonst besonders: So wurden sie jedes Mal vor der Grenze angehalten und streng durchsucht. Wir mussten währenddessen aussteigen und wurden in eine Holzbaracke gewiesen, um dort Fragen zu beantworten, unsere Einreisegenehmigungen und unsere Ausweise vorzuzeigen. Dann durften wir zurück in unsere Abteile, die in der Zwischenzeit von den Grenzbeamten durchsucht worden waren. Damit vor dem Überqueren der innerdeutschen Grenze niemand unerlaubt zustieg, wurden die Waggons vor der Abfahrt abgeschlossen. Und dennoch kletterten einige noch schnell durch ein offenes Fenster hinein und fuhren mit. Das war abenteuerlich. Ich verstand vieles nicht, machte mir Sorgen um die vielen Menschen, die auf dem Gang vor unserem Abteil standen oder hockten, aber ich hatte ja meine Eltern dabei. Das war gut und beruhigend. Ich freute mich auf das großväterliche Haus, den dazugehörigen Garten und die Ostsee.

 

Das Haus meiner Großeltern war groß und geheimnisvoll. Es roch nach Briketts, Kartoffeln und Äpfeln. Meine Entdeckung in dem meist abgeschlossenen Zimmer des Onkels oben unter dem Dach des Hauses beschäftigte mich. Oder besser noch: Ich verbot mir, daran überhaupt zu denken – ich war ja nur ein etwa 6-jähriges Mädchen. Mädchen spielen nicht mit Modelleisenbahnen. Punkt. Das wusste ich schon immer. Meist ging ich tapfer an dem Zimmer vorbei und spielte weiter oben auf dem Dachboden mit dem alten Puppenhaus meiner Mutter. Das war auch schön.

 

Aber dann eines Tages fasste ich mir doch ein Herz und fragte mit Herzklopfen meinen Onkel, als er einmal wieder zu Besuch im elterlichen Haus war, ob ...

„Du verstehst nichts davon. Mädchen spielen nicht mit Eisenbahnen.“

Das wusste ich ja schon. Ich hatte aber gehofft, ich sei nicht nur irgendein Mädchen, sondern ein wichtiges Mädchen, nämlich seine Nichte und die Enkelin meines Großvaters. Der war immerhin Landarzt. Für solche Fälle könnte es doch Ausnahmen geben.

„Und außerdem muss man sie erst stundenlang mühevoll aufbauen. Ich hab jetzt keine Lust dazu“, war die Antwort meines Onkels. Das war bitter für mich und unfreundlich von ihm. Ob er sich daran erinnert? Er lebt noch und wurde vor einigen Tagen 92 und ich bin inzwischen fast 76 Jahre alt. Ich sollte ihn bei Gelegenheit einmal fragen.

 

Bis auf den heutigen Tag faszinieren mich Modelleisenbahnen. Diese maßstabgetreuen Kleinausführungen von Dampfzügen z.B., die sich durch detailgetreu nachgebaute Städtchen und Landschaften schlängeln, in Tunnelröhren verschwinden und unbeschadet daraus wieder hervorkommen. Nichts schöner, als in diese Miniaturwelt zu versinken. Zu gerne hätte ich so eine Bahn in Kindertagen gehabt.

 

Und dann kam Weihnachten. Wir waren wieder zu Hause im Ruhrgebiet. Insgeheim hoffte ich, dass vielleicht meine Eltern ein Einsehen hätten und ich vielleicht von ihnen eine ….? Ich wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Ja, sie hatten ein Einsehen, nur anders. Anscheinend hatten sie gemerkt, dass ihre Tochter technisches Interesse hatte. Und so prangte unter dem Weihnachtsbaum zu meiner Überraschung (und Enttäuschung) ein Modellauto, das ich per Batterie und einem Kabel fernsteuern konnte. Man konnte mit einem kleinen Lenkrad lenken und per Knopf die Fahrgeschwindigkeit bestimmen. Es fuhr neben mir oder vor mir her, aber ich musste mitlaufen, da das Auto mit der Hand-Steuerung über ein Kabel fest verbunden war. Es war immerhin kräftig rot, aber längst nicht so interessant wie es eine Modelleisenbahn gewesen wäre. Gehorsam freute ich mich.

 

Genauso gehorsam wie damals, als ich den heiß ersehnten Zauberkasten bekam, der einiges „Werkzeug“ für Trickvorführungen beinhaltete. Ich fand ihn ganz schrecklich langweilig und war enttäuscht. Noch mehrmals wünschte ich mir sehnlichst das ein oder andere und als ich es bekam, hatte es seinen Reiz verloren. Von da an wünschte ich mir nichts mehr und nahm das, was man mir schenkte: den jährlichen Stickkasten von „den Frauen“, (zwei Schwestern, die nach dem Krieg und Flucht aus Ostpreußen bei meinen Großeltern Unterschlupf gefunden hatten), die silbernen Teelöffel von der Patentante (ich lese gerade meine „Bedanke-mich-Briefe“, die aus ihrem Nachlass den Weg zu mir gefunden hatten – ich konnte doch tatsächlich mit gestochen schöner Schrift und immer sehr herzlich schreiben – meine Gefühle jedoch waren andere), die Strickpullover meiner Großmutter (die mochte ich wirklich! - sehr sogar) oder später die erste Schreibmaschine (wenn man als Frau Stenographie und Schreibmaschine schreiben konnte, braucht man als Frau nie zu hungern, war die Devise meines Vaters). Immer sollte es „was Praktisches“ oder Sinnvolles fürs Leben sein. Ich ließ es geschehen.

 

Das wurde die Vorgeschichte dazu, dass unsere Tochter eines Tages eine Duplo-eisenbahn von uns bekam, die man zwar per Hand schieben musste, aber für die man ein ganzes Schienennetz bauen konnte, mit Kurven und Brücke und Holzhäusern. Unsere Tochter war sehr erfinderisch und formte aus ihren Bausteinen, Pappe und Papier ganze Landschaften drumherum. Natürlich konnte man das unmöglich abends vor dem Zubettgehen wieder aufräumen. Das sah ich ein. Und so musste ich als verständnisvolle Mutter an mehreren Abenden hintereinander für den Gute-Nacht-Kuss grazil über ihre "Kunstwerke" steigen, um zu ihrem Bett zu kommen. Ich hatte es da als Kind leichter mit meinem roten Auto – das war schnell weggeräumt und machte nicht so viel Arbeit.




Anmerkung von tulpenrot:

angeregt durch Bebas Text "1965"

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram