Im Ausguck

Kurzprosa

von  Citronella

Wenn ich in jenem heißen Sommer abends von der Arbeit nach Hause kam, hatten sie ihre Position am geöffneten Fenster schon eingenommen: Ein altes Paar im Nachbarhaus, 2. Stock, einträchtig die Unterarme auf Kissen gestützt. Niemals hatte ich den Eindruck, dass sie mich oder andere Passanten wirklich beobachteten. Doch glaubte ich ziemlich sicher, dass sie genau wahrnahmen, was unten auf der Straße passierte, auch wenn ihr Blick starr geradeaus auf die nahe Ringstraße gerichtet war, zu der unsere kleine Wohnstraße führte.

Da die zwei Alten nie direkt auf mich herunterblickten, sah ich keine Veranlassung, sie zu grüßen. Ich ging vorüber und nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, wie sie mich wahrnahmen.

Es wurde Herbst, am Fenster waren sie jetzt nur noch selten zu sehen. Die Dunkelheit hatte bereits eingesetzt, wenn ich aus dem Büro kam. Ich dachte bald nicht mehr an dieses seltsame Paar.

Im Frühjahr blieben die Fenster weiterhin geschlossen. Die Gardinen waren noch dieselben, altmodisch gemustert und akkurat drapiert. Zu sehen war niemand.

Im Mai zog ich in eine andere Wohnung. Am Umzugstag warf ich einen letzten Blick auf die Fenster im 2. Stock nebenan. Es hatte seit Monaten keine Veränderung gegeben.

Ich wusste nichts über sie, denke aber nach Jahrzehnten manchmal immer noch an diese beinahe stoischen alten Leute im offenen Fenster.

 



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Kommentare zu diesem Text


 niemand (12.09.24, 19:34)
Manches bleibt einem im Gedächtnis, auch wenn man nichts über das Betreffende weiß/erfährt ... vielleicht sogar deshalb. Je weniger Tatsachen, desto mehr Fantasie. Da bleibt alles offen ...
LG Irene :)

 Citronella meinte dazu am 12.09.24 um 20:03:
Ja, Irene, das ist richtig, da gibt es sicher mehrere Möglichkeiten. Ist eine/r krank geworden oder gar gestorben und der/die andere blieb einsam und allein in der Wohnung? Neue Mieter gab es ja augenscheinlich nicht. Und sicher wäre eine solche Wohnung in der Großstadt schon damals nicht länger frei geblieben. Da kann man schon ins Grübeln kommen.

Danke und liebe Grüße, Citronella
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