1 Katzensommer

Roman

von  Isensee

Heute MUSSTE ich AN eine Kindheit DENKEN, die ICH nie hatte. Irgendwie schwebte das durch den Raum, die Leere zwischen einem Video und dem nächsten Take – ich lag auf dem Sofa, INStagram vibrierte in meiner Hand. Plötzlich dieses VIDEO: ein Junge, gerade ein MANN geworden, von einem Auto plattgemacht, Körper wie Gummi, die Kamera hielt drauf. Und dann: HIMMEL. Hund. Nebel. Dieser junge MANN begegnet SEINEM Hund, der ihm durch Kindheitstage gefolgt war, ein Echo, ein verlorenes JAHRZEHNT. Im nächsten Moment dann – ZURÜCK ins Leben, ein Defibrillatorstoß, wie eine Faust ins Herz, und der HUND verschwand schemenhaft, als wäre er NUR noch Gedächtnis.

ICH wollte das auch.
So angenehm TOT sein. Nicht weg, nicht nichts – einfach schweben, durch Nebel und Vergessen hindurch. Aber dann dachte ich an meine Kindheit und spürte nur Leere. Nein, keine Leere: EIN Geräusch. Katzengeschrei. Es war SOMMER, ich war vielleicht acht oder neun, und mein Opa sagte mir: „Augen ZU, keine Gnade. Wenn die Kleinen noch BLIND sind, spüren sie nichts.“

Er und ich, ein Team. Katzendetektive. Fünf Tage in der Woche haben wir das gemacht, in der Hitze, mit kratzigen Ärmeln und Spuren aus Katzenhaaren an den Händen. Wir FOLGTEN den Mutterkatzen, geduldig, clever, wie Spione in einem Film, der NIE in die Kinos kam. Wenn wir dann ein Nest fanden – so warm, so weich, diese Kätzchen, wie wackelige Puppen, kaum da, und dann entschied ich: Wand oder Wasser? Es war besser für sie, so sagte Opa es jedenfalls. Besser als zu verhungern, besser als von Füchsen geholt zu werden. Besser als diese Welt.

„Das ist Verantwortung“, sagte er, und ich nickte. Ich verstand nichts, fühlte nichts, glaubte alles. Es war Sommer, und in diesen Sommern lernte ich alles, was man fürs Leben wissen musste: Flitzebögen bauen, Pfeile schnitzen, und wie man ein Holunderrohr so schnitzt, dass eine Pfeife draus wird. Aber vor allem lernte ich, dass STÄRKE darin liegt, Schwäche im Keim zu ersticken.

Da war auch Frau Schämer, die Nachbarin. Sie war alt und hatte diese Wohnung, die roch nach Zeit. Nach Geschichte. Ich durfte rein, kein anderer – sie hatte Fotos an den Wänden, alte Bilder, Männer in Uniformen, eine junge Frau vor Stacheldraht, die Lächelte. Sie sah glücklich aus, als hätte sie gerade etwas Großes erreicht. Es war beeindruckend, fand ich. Fand ich wirklich.

„Erzähl niemandem davon“, sagte sie. Und ich tat’s nicht. Weil man Geheimnisse respektiert, vor allem von Menschen, die einem die besten Kekse geben.

Jetzt, Jahre später, dachte ich daran zurück. An die Katzen, an die Fotos, an meinen Opa, der mich abhängte, wenn er rannte, und daran, dass ich das damals noch irgendwie… gemocht hatte. Dass ich nicht verstand, wie schnell alles enden kann – das Rennen, das Töten, das Vertrauen.

Und jetzt, JETZT, wollte ich nichts mehr als diesen Nebel, in dem der Hund verschwand.



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Kommentare zu diesem Text


 Tula (28.11.24, 21:53)
Hallo Isensee
Kurze Frage: warum die Großschreibungen? Wirken eher störend.
Ansonsten: gute Story, bei der es mir teilweise kalt den Rücken runterläuft.
Meinen Opa mussten wir leider auch bestellen, als unsere Hündin im ersten Wurf acht Welpen hatte. Nur vier durften überleben. Sagte uns auch das Hundebuch. Nur Opa war dazu in der Lage, immerhin kamen aus seiner Zucht auch die Kanickelbraten zu Ostern  :ermm:

LG Tula

 AchterZwerg meinte dazu am 29.11.24 um 11:06:
Möchte mich hier Tula anschließen.
Die Großschreibung machte für mich nur Sinn, wenn sie eine eigene Story in der Story erzählte, sich also also zusammenfügen ließe.
Das ist hier nicht der Fall.
Ansonsten facettenreich erzählt.
Ein kindliches Trauma per se: das Grauenhafte im Lieben ...

das prägt!

 hehnerdreck (28.11.24, 22:51)
bei der gelegenheit - schreibe ich jetzt auch mal so - wie ich früher oft geschrieben hatte - diese bindestriche und alles kleingehalten - dadurch lenkt man weniger vom text selbst ab - große und kleine buchstaben - hässliche satzzeichen und so - und dieser homogene schriftfluss mit den bindestrichen - dadurch wird man weniger abgelenkt - den die großen und kleinen buchstaben sind ja für die augen wie eine unwillkommene achterbahnfahrt - aber gut - ist halt nur meine empfindung - meine sichtweise - das mit den großen buchstaben gefällt mir - wirkt innovativ - worte - auf die es mehr ankommt - einfach größer machen - warum nicht - was den 'roman' betrifft - da is so a bisserl marcel proust drin - der hat ewig lange sätze geschrieben und ist vom hundertsten ins tausendste vom thema gewechselt - war aber immer ineinanderfließend und hat zusammengepasst - und deine eigene art wie du schreibst kommt - finde ich - auch besser als sonst rüber - letztlich glaube ich - soll man nur so schreiben - wie man auch wirklich schreiben will - völlig unabhängig von ästhetischen regeln und sonst solchen kram

 Saira (29.11.24, 10:59)
Hallo Isensee,
 
während des Lesens bin ich in deine Erzählung eingestiegen und habe mich in ein vielschichtiges Bild aus Erinnerungen, Verlust und der Suche nach dem Sinn in unserer Welt begeben. Sie hat mich so tief berührt, dass deine Bilder und Gefühle ein Stück weit greifbar wurden. Du hast eine emotionale Tiefe geschaffen, wie ich sie nun schon einige Male in deinen Texten finden konnte.
 
Es fiel mir schwer, die Bilder zu ertragen, beginnend mit dem Flashback auf den Unfall – auf dich? Der Hund, der Nebel, die Katzenbabys…
 
Ich fühle die Unschuld und die kindliche Neugier, die in den kleinen Abenteuern mit dem Opa verborgen sind, während gleichzeitig die Schatten des Erwachsenwerdens und der Verlust von Unschuld über allem liegen.
 
Die Kontraste zwischen der Leichtigkeit der Kindheit und der Schwere des Erwachsenseins hast du meisterhaft eingefangen. Ich bin ein Stück weit in diesen Nebel eingetaucht, in dem Erinnerungen und Sehnsüchte miteinander verschmelzen.
 
Zwei kleine Kritikpunkte habe ich:
Die „1“ in der Überschrift würde ich als Wort schreiben und „INStagram“ als „Instagram“.
 
Liebe Grüße
Saira


Kommentar geändert am 29.11.2024 um 11:00 Uhr

 EkkehartMittelberg (29.11.24, 14:50)
Hallo Isensee,

gute Gestaltung spart einerseits viel aus und spart andererseits nichts aus.

Gruß Ekki
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