Wie schön war Liebeskummer

Prosagedicht zum Thema Einsicht

von  Brösel

I.

Schlaff hängen die Zweige der Birken vor meinem Fenster

sie tragen kein einziges Blatt.

 

II.

Wie schön war Liebeskummer!

Tage- wochen- monatelang

im eigenen Daseinssumpf

sich winden und um sich selber drehen

Ich vermisse mein verzerrtes Gesicht und meine verquollenen Augen

abwechselnd 

du du du

ich ich ich 

im tröstlich weichen Bett, zugedeckt

das angefahrene Reh am Straßenrand 

zelebrieren:

Lamento, Lamento, Dolores, Colère

die Welt Welt 

die Zeit Zeit

sein lassen.

 

III.

Gestern schickte mir I. ein Foto von ihrer neugeborenen Tochter

ich antwortete mit einem Herzregen

und meinte es nicht

ich hatte das Hirn voll mit Armen

sie sprach von Glück

ich war Blei.

Was hätte ich um einen 

giftigen gelbgrünen galligen Neid gegeben.

 

IV.

Wie schön war Liebeskummer!

Sich als Wunde in Jod suhlen.

Wie schön war Liebeskummer!

Das Beißen Reißen das Zucken das Ziepen das Krümmen und Krampfen

das Blitzen das Schütteln 

das Zittern Stechen Zerbrechen

Lieber zehn Jahre Liebeskummer als ein einziger Tag im Jetzt!

 

V.

Ich atme gegen die Fensterscheibe

mit derselben ruhigen Gewissheit, die sich in mir ausbreitet,

wenn mir klar wird, dass ich den Bus nicht erwischen werde 

und mit dem Rennen aufhören kann.


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Kommentare zu diesem Text


 Klemm (23.01.25, 01:21)
Tja. Liebeskummer ist Luxus.

 Brösel meinte dazu am 23.01.25 um 11:37:
Das habe ich erst kürzlich verstanden  :(

 Klemm antwortete darauf am 23.01.25 um 12:33:
Ein Hoch auf diese Erkenntnis!

 Brösel schrieb daraufhin am 23.01.25 um 13:40:
Naja.

 Redux (23.01.25, 06:13)
Erinnerungen kommen hoch. Ja, so schön

 Brösel äußerte darauf am 23.01.25 um 11:45:
Wie gut wir es hatten! Ob die Tochter meiner Freundin sich in 15 Jahren einem solchen wird hingeben können?

 AchterZwerg (23.01.25, 06:45)
Sich als Wunde in Jod suhlen
Allerherrlichst, Brösel!

Du bist ein Dichter. <3

 Brösel ergänzte dazu am 23.01.25 um 12:15:
Die Frage ist: wie lange noch?

 Klemm (23.01.25, 16:15)
Liebes Brösel, ich entschuldige mich wegen des Spams, ich möchte nur die Startseite schöner machen. Vielleicht liest ja dann jemand dein Gedicht, statt sich unter einem Empörungstext zu verlustieren.

 Brösel meinte dazu am 24.01.25 um 12:13:
Schon gut.

 EkkehartMittelberg (23.01.25, 20:31)
Welcher vernünftige Mensch leidet unter Liebeskummer? Ein vernünftiger Mensch selten, aber gute Lyriker oft.

Gruß
Ekki

 Brösel meinte dazu am 24.01.25 um 12:19:
Spannender Kommentar! Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wie erlebt ein vernünftiger Mensch denn Liebeskummer? Oder hat er ihn gar nicht?

 Saira (25.01.25, 12:18)
Wow Brösel, du schaffst es, die ambivalente Schönheit und den Schmerz des Liebeskummers auf eindringliche Weise einzufangen. Bisher dachte ich immer, dass Liebeskummer keineswegs erstrebenswert sei. Stimmt ja auch im Prinzip, aber dieser Kummer lässt uns eine besondere Intensität und Tiefe spüren, die vielleicht im Alltagsleben manchmal verlorengeht.
 
Die Metapher „Sich als Wunde in Jod suhlen“ ist ein kraftvolles Bild für die Art und Weise, wie wir manchmal in unserem eigenen Leid verweilen.
 
LG
Saira

 Brösel meinte dazu am 25.01.25 um 13:44:
Jod desinfiziert und reinigt. Ich glaube, es hilft, Kummer auszuleben, durchzuleben. Der Kummer über den Verlust einer romantischen (besitzenden) Liebe geht vorbei, die viel subtilere Menschenliebe einer Gesellschaft, die prinzipielle Wohlgesonnenheit allen gegenüber ist unersetzlich und sie geht gerade verloren.
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