Folklore der ‚Guten‘ - eine Erregung

Kommentar zum Thema Zeitgeist

von  tueichler

Die letzten Demonstrationen, denen ich beiwohnte, fanden 1989 in Dresden statt. Damals ging es - mehr oder weniger - aus damaliger Sicht, ums Ganze. Lassen die Russen die Kasernentore zu, werden die Vopos schießen, verlieren wir die Studienplätze, wird Modrow sich auf unsere Seite schlagen, wie gut wird der Runde Tisch funktionieren, versucht die Stasi eine Finte, etc., etc., etc. …


Und ja, es ging nicht immer gut. Einmal rannten wir von der Prager Straße Richtung Altmarkt vor den Vopos mit Knüppel und Schild davon, wissend, dass Freunde am Vorabend eingeknastet wurden, weil das Regime listigerweise Einlauftrichter aus Stasi und Bereitschaftspolizei in den Fluchträumen aufgestellt hatte. Die Details lasse ich mal aus.


Was die damaligen Demos maßgeblich von den heutigen unterschied, ist Folgendes: Wir übten Kritik am und Druck auf ein bestehendes System mit ungewissem Ausgang für unsere eigene Zukunft aus. Keiner nahm teil, um den anderen zu beweisen, dass er ein ‚Guter‘ auf der ‚Richtigen Seite‘ sei. Ganz im Gegenteil, es waren buchstäblich  essentielle Anliegen, die uns auf die Straße trieben. Dies war um so schwerer, als jeder in der damaligen Zeit diese verordneten Demonstrationen des Regimes noch erlebt hatte, in denen die Hybris des Guten Räson war und somit jeder unter Beweis stellen musste, dass er dazu gehört (1. Mai, 8. Mai, Parteitage und FDJ oder Parteijubiläen).


Ich bin mittlerweile erfahren genug, um Folgendes für mich zu konstatieren:

Jeder kann und sollte seine eigene und freie Meinung ausdrücken, am Besten bei der Wahl. Damit ist imperativ der Satz von Hannah Arendt gültig ‚Keiner hat das Recht zu gehorchen!‘

Selbstbestätigung in der Teilnahme völlig konsequenzfreier Massenveranstaltungen zu suchen zeugt von mangelnder Selbstachtung in jeglichem Sinne. Entweder engagiere ich mich über ein gewähltes Amt ehrenamtlich oder beruflich in der Politik oder ich wähle mit einer eigenen Meinung. Meinungen qua Massenauflauf zu erzeugen ist Resignation vor dem Intellekt des Individuums und anmaßend gegen jegliche Fähigkeit selbst zu denken; die deutschen Geschichte liefert mannigfach Belege dazu.

Petitionen können und sollen ein politisch wirksames Mittel sein. Durch massenweise Petitionen für oder gegen etwas, wird der Charakter der Petition als eines der wenigen wirksamen außerparlamentarischen politischen Mittel aufgeweicht und als Dekoration der ‚Guten’ in die Beliebigkeit geführt.

Die Kategorien der politischen Denkrichtungen wurden in den letzten Jahren massiv verschoben. Galt mit Strauss, Brand, Schmidt oder Genscher das Attribut ‚links‘, ‚liberal‘ oder ‚rechts‘ noch als Indikator einer politischen Richtung oder Weltsicht, so ist heutzutage alles ‚Nichtlinke‘ quasi rechts und damit durch Polarisierung diskreditiert. Richtig wäre, die Ränder ‚rechtsradikal‘ und ‚linksradikal‘ zu benennen, um damit den Parteien dazwischen die Möglichkeit zum Konsens oder Kompromiss zu geben. Leider sind die ‚Guten‘ so populistisch, wie die ‚Radikalen’, wobei ein deutlicher Hang dazu besteht, den Radikalismus der linken Seite  zu tolerieren oder gar im Wahlkampf zu nutzen.

Ich habe für mich entschieden, dass ich meine Weltsicht nicht durch einen naturbelassenen Jägerzaun aus unbehandeltem FSC-Holz einschränken lasse, dessen Abgrenzungsfunktion nur in der Ausgrenzung und Unterscheidung ‚Anständige‘ und ‚Unanständige‘ besteht. Interessanterweise wird der Begriff des Anständigseins meist von denen verwendet, die Anstand in jeglicher Form vermissen lassen. Anstand ist an sich kein definierter Wert, sondern lediglich eine Verkürzung der moralischen Einschränkungen derer, die den Begriff gebrauchen - wie etwa auch der Nazis bei der Denunziation der Juden im 3. Reich (vgl. u.A. "Elztäler", Juni 1933, Aufruf der HJ zur Sammlung verbrennungswürdiger Bücher, oder "Schreiben (Einschreiben!) des SS-Sturmbannfhrers Heckmüller (He/G),2 Eisenerz, an die Geheime Staatspolizei, z. Hd. ORR Dr. Noske, 3 Graz, Parkring 4, vom 3. 5. 19404
... Denn jeder anständige Deutsche muß es als eine Ehrverletzung betrachten, wenn Juden in. dem selben Wartezimmer beim Arzt, in. der selben Krankenstube im Krankenhaus oder in der selben Gastwirtschaft sind wie er. ..."   
Quelle Dokumen-Pub)


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (09.02.25, 10:57)
Das sind ganz folgerichtige Gedanken, recht geschickt in Sprache umgesetzt. Der letzte Satz ist heftig.

 tueichler meinte dazu am 09.02.25 um 11:25:
Besten Dank, wobei ich mir nicht sicher bin, ob dieser Text nicht auch schon zur Folklore gezählt werden muss ...

Antwort geändert am 09.02.2025 um 11:41 Uhr

 niemand antwortete darauf am 09.02.25 um 19:37:
ein hervorragender text!  lg niemand

 tueichler schrieb daraufhin am 10.02.25 um 08:57:
Merci vielmals! Schöner wäre, solche Texte müssten nicht geschrieben werden.

 Moppel (11.02.25, 12:22)
Der FCKW freie Zaun gefällt mir, gut geschrieben Teichler. Dem Inhalt schließe ich mich an.
lG von M.
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