Kriegskind

Novelle

von  Quoth

Als du dir, liebe Tochter, zweitweise überlegtest, dich in Bochum anzusiedeln, wo auch Deine Arbeitgeberin zu Hause war, da war ich glücklich. Ich durchwanderte die frühere Lüderitz-, jetzige Ottilie-Schoenewald-Straße, in dieser Straße steht ein Haus, in dem ich zwei Jahre glücklich war – mit Larissa. Sehr glücklich. Wir stritten uns nie, liebten einander unermüdlich und ohne dass ein Gefühl von Schalheit aufkam – bis Larissa mich verließ – vernünftigerweise, denn sie wollte eine Familie gründen, und das nicht mit mir, der ich doppelt so alt war wie sie. Und in diese Stadt wollte nun meine liebe, tüchtige und kluge Tochter ziehen. Das konnte ihr nur Glück bringen, davon war ich, in einer leichten Anwandlung von Aberglauben, überzeugt.

 

       Wann fängt etwas an, wann hört es auf? Genauer gefragt: Wann fängt es an, erzählenswert zu werden? Ich habe mir kürzlich eine Darstellung der Weltgeschichte aus amerikanischer Sicht angeschaut. Da finden sich schon um 1940 Bilder von Kennedy als Marineoffizier, später, Anfang der Fünfziger, von Kennedy in der Fernsehsendung "Kaffee bei den Kennedys". Die Redakteure der Kompilation waren der Meinung, Kennedy habe schon, bevor er Präsident wurde, den Marschallstab im Tornister getragen. Also müsste ich die Geschichte von Larissa in einem deutschen Lager für russische Kriegsgefangene in der Ukraine beginnen lassen. Damals war Larissa noch gar nicht auf der Welt, ja, nicht einmal gezeugt, aber ihre spätere Mutter, die in Moskau Deutsch studiert hatte, meldete sich, als der Lagerleiter fragte: "Wer versteht Deutsch?"

 

"Können Sie auch dolmetschen?" fragte er Warwara, eine bescheidene, unauffällige Frau mit einem breiten Gesicht, das immer ein wenig zu beflissen lächelte.

 

Sie nickte. Und damit war der Pakt besiegelt, aus dem Larissa hervorgehen sollte; denn der Lagerleiter war ihr späterer Vater. Aber beide wussten davon noch nichts, und von Liebe auf den ersten Blick konnte keine Rede sein. Warwaras Freundlichkeit war vielleicht nur Tarnung. Robert Wolf war weit davon entfernt, ein Techtelmechtel mit einer Russin zu suchen. Er hatte Jura studiert, und die Rechtswissenschaft ist ein misstrauisches Fach. Bekanntlich wird nirgends so viel gelogen wie vor Gericht.

 

Ich aber, ich war um diese Zeit schon vorhanden. Gleichsam zur Feier des deutschen Überfalls auf Russland war ich pünktlich zum 22. Juni 1941 auf die Welt gekommen. Die ersten Laute, die ich vernahm, waren russischen Ursprungs, denn da die meisten deutschen Schwestern pflichtbewusst genug waren, um in Frontlazaretten deutsche Landser zusammenzuflicken, herrsch-te in den Kliniken in der Heimat akuter Schwesternmangel. Es wurden deshalb Mädchen aus den besetzten Ländern dienstverpflichtet, die oft wenig Pflegeerfahrung, dafür aber umso herzlichere Umgangsformen hatten. Vielleicht hat ein russisches Schlaflied den Keim dafür gelegt, dass ich mich später mehrmals in Slawinnen verliebte. Ich selbst bin eher der Typ Dinarier aus dem Süden, Bayernstolz mit bergischer Bescheidenheit und hessischer Klügelei durcheinandergemendelt, nicht zu vergessen eine Urgroßmutter aus dem ehrwürdigen Stamme der Sinti. Und da ich schon da war, tut mein Vater nichts mehr zur Sache – er hatte ausgedient und hätte ruhig wie die meisten seiner Kameraden vor Stalingrad ins tiefgefrorene Gras beißen können. Stattdessen ritt er auf eine Mine und wurde, freilich um den Preis eines Fußes, gerettet. Wie viele Kilometer er zu diesem Zeitpunkt vom Gefangenenlager des Hauptmanns Wolf entfernt war, wüsste ich gerne. Auch, was sich dort gerade abspielte. Nach Larissas Erzählung – wir saßen beim Abendbrot in unserer gemütlichen Bochumer Küche und schauten hinaus, wie der Gewitterwind die Birken peitschte – war's ungefähr das folgende:

 

Hauptmann Wolf hatte den Auftrag, aus den Gefangenen die kräftigsten herauszufiltern und nach Deutschland zu schicken, wo die Rüstungsindustrie sie dringend benötigte. Aber gerade die kräftigsten hatten auf diese Vergünstigung wenig Lust, und deshalb verschworen sie sich, den Hauptmann und seine Schergen umzubringen und das Weite zu suchen. Sie wollten lieber in den heimatlichen Wäldern und Sümpfen als bei Daimler verrecken.

 

Und da Warwara täglich Zutritt zur Kommandantur hatte, die in einem vergammelten ehemaligen Herrenhaus untergebracht war (in der Bibliothek gab's in der Decke noch das Einschussloch, das vom Selbstmord des Parteisekretärs beim Einmarsch der Deutschen erzählte), wurde sie ausersehen, Hauptmann Wolf mittels eines bis auf den Rücken heruntergewetzten Filiermessers vom Dies- ins Jenseits zu befördern, was sie auch zusagte. Als Zeitpunkt war der Donnerstagabend ausersehen, und es war Mittwoch. Warwara wurde zum Kommandanten gerufen. Er saß, eine Papirossa rauchend – Beutebestände – hinter seinem Schreibtisch, wandte ihr seinen runden Kopf mit der lächerlichen beginnenden Wirbelglatze zu, und Warwara stellte sich vor, dass es ihr nichts ausmachen würde, ihm das Messer auf der linken Seite zwischen die Rippen zu rammen. Schließlich war er ein Feind des Vaterlands. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie in der Bibliothek der Lomonossow-Universität gesessen hatte; plötzlich wurde ein Lautsprecher angestellt, und Stalin verkündete mit Grabesstimme, dass der Feind die Grenze Russlands überschritten habe.

 

Der Kommandant legte ihr die verschärfte Lagerordnung vor und bat sie, die Änderungen noch in dieser Nacht zu übersetzen. Sie fragte, woran sie die Änderungen erkennen könne. Das wusste er auch nicht mehr so genau, und nun tat er etwas, was ihm das Leben retten und mir die wunderbarste Geliebte meines Lebens bescheren sollte: Er fasste sich an die Nase und entlockte ihr durch Zusammendrücken der Nasenflügel einen ebenso lächerlichen wie auch unappetitlichen Quietschlaut.

 

Plötzlich stand Aaron Belousow, Warwaras Großvater, ein dicker, nervöser und immer etwas zerstreuter Schuhmacher, vor ihrem inneren Auge, wie er über einem Leisten brütete und seiner Nase Quietschlaute entlockte.

 

Sie hatte Großvater Aaron über alles geliebt, und aus Gründen der Assoziation, vielleicht aber auch der Logik (Großvater Aaron war ein guter Mensch, da kann dieser nicht ganz schlecht sein, wenn er denselben Nasenquietschtick hat wie er) fiel ein Widerschein ihrer Liebe zum Großvater auf den Kommandanten, und sie entdeckte auf einmal, dass er schöne, schlanke, nicht besonders männliche, weil fast unbehaarte, aber sehr gepflegte Hände hatte. Die Fingernägel waren spitz zulaufend geschnitten, und sie konnte sich vorstellen, dass es sensible Hände waren, Hände, von denen sich anfassen zu lassen nicht unbedingt widerlich sein musste.

 

Er gab ihr den Tipp, einfach alles zu übersetzen, was in der neuen von der alten Fassung abweiche: "Gute Nacht!" sagte er abschließend und sah in eine Akte mit den Tagesbefehlen.

 

Als sie nicht ging, fragte er: "Was ist los? Was gibt's noch?"

 

Sie schwieg und zauderte.

 

Ob sie gespürt hat, dass sie an der entscheidenden Weiche ihres eigenen – und vieler anderer Leben stand? In Bayern machte ein Einjähriger gerade, nachdem er eine schwere Mittelohrentzündung mittels einer Blutspende seiner Mutter überstanden hatte, unsichere erste Schritte auf Streichholzbeinchen durch den Laufstall (dieses Folterinstrument hielt man damals für ein unabdingbares Werkzeug der Kinderaufzucht) und rief ihr (aber sie hörte es nicht) zu: "Tu's! Tu's, Warwara! Sonst wird's Larissa nie geben – und wer wird dann meinen Lebens- und Liebeshunger stillen?" Und sie hätte antworten können: "Gut und schön, mein lieber Kleiner, aber Verrat ist Verrat! Wenn ich hier und jetzt meine Landsleute verrate, dann gnade mir Gott! Ich werde nie wieder Frieden in meinem Herzen haben!"

 

"Bitte, Warwara, was ist?"

 

Zum ersten Mal nannte der Kommandant sie bei ihrem Vornamen. Das gab den Ausschlag. Sie legte das Filiermesser auf den Tisch (eine Stahlgräte, widerlich und das Auge beim bloßen Anschauen verletzend) und gestand ihm alles.

 

Und Robert Wolf, dies muss zu seiner Ehre gesagt sein – er war schließlich nur einer der vielen dummen Deutschen, die mit Begriffen wie Ehre und Vaterland im Kopf ein System nicht nur verteidigten, sondern über ganz Europa auszubreiten versuchten, das an Ehr- und Vaterlandslosigkeit längst alles überboten hatte, was es je gegeben hatte – begriff sofort, was jetzt notwendig war: Diese Frau mit dem immer etwas zu beflissenen Lächeln – das auch jetzt ihre Angst fast völlig übertünchte – gab sich mit ihrem Rettungsakt in seine Hand und Verantwortung, er musste auf der Stelle Rettung mit Rettung vergelten. Sich die Frage zu stellen, ob er sie liebte, wäre in dieser Situation eine Geschmacklosigkeit gewesen. Auch später hat er sie sich nie gestellt: Sie hatte ihn, er sie gerettet. Das genügte, ja, es war mehr wert als Liebe, die bekanntlich launenhaft ist. Seit die Bourgeoisie die Liebesheirat erfunden hat, ist das Sichscheidenlassen zum Volkssport geworden.

 

Noch am selben Abend verschwand Warwara Bjelousowa spurlos aus dem Lager. Sie hatte keine Namen genannt, aber Robert Wolf wusste auch so, wo er die Rädelsführer zu suchen hatte. Er ließ sie samt und sonders an der Mauer des verrotteten alten Pferdestalls erschießen. Für Warwara freilich entwickelte Robert eine Erzählung von der abenteuerlichen Flucht ihrer Kameraden. Und weil solche Geschichten immer stehen und fallen mit einem Detail, das ihnen Glaubwürdigkeit verleiht, berichtete er von einem aufregenden Fund der Wachmannschaften: In einer Schneewächte entdeckten sie ein Lager voller Flaschen, sie enthielten einen mit Zitronengras aromatisierten Wodka, an dem betranken sie sich sinnlos, und die Gefangenen entwichen an ihren betrunkenen Wächtern vorbei, denen für dieses Vergehen samt und sonders der Heimaturlaub gestrichen wurde. Das war die Geschichte, die er Warwara erzählte.




Anmerkung von Quoth:

Wird fortgesetzt

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online: