Die Nailisten

Novelle zum Thema Fan(atismus)

von  Quoth

Ein rostiger Nagel, handgeschmiedet, der Kopf einen halben Zoll Durchmesser, der Stift vierkantig und gut eineinhalb Zoll lang, rettete die Bewohner von New Herford, als ein Trupp Shawnees im Morgengrauen des 14. Mai 1812 in den Ort einzudringen versuchte, um den schlafenden Bewohnern die Schädel zu spalten. Einer von ihnen war über die Palisaden gestiegen, hatte das Tor von innen entriegelt und wollte seine Gefährten gerade hereinlassen, da verhakte sich das Tau, das den Riegel befestigt hatte, an einem Nagel, der aus dem anderen Torflügel hervorstand. Weil das Tor nach Osten lag, war es auf seiner Rückseite noch dunkel, der Shawnee, der Axt und Messer zurückgelassen hatte, versuchte das Tau zu lösen, da krähte der Hahn von Joshua Beilman, dieser trat, sich streckend, vors Haus, sah den Indianer auf der Innenseite des Tors an dem Tau werkeln und erschoss ihn, bevor er die anderen einlassen konnte.

Dieser Vorfall wäre kaum berichtenswert, wenn nicht Alister Joyner, der sich schon vorher als Prediger hervorgetan hatte, mit dem Nagel in der Hand durch die junge Siedlung gezogen wäre und das rostige Eisenteil als den Retter und Erlöser gepriesen, ihn hoch empor gehoben und verlangt hätte, das ganze Dorf solle dem Herrn Zebaoth danken. Für Alister Joyner war der Nagel nur das Werkzeug, mit dem Gott den Einwohnern, die gerade erst aus den Armenvierteln Europas in die noch jungen Staaten gekommen waren, sein Wohlwollen bewiesen hatte, doch für diese, besonders die Frauen und vor allem für Martha Rosen, die verwitwete, rothaarige Schwester von Joshua Beilman, wurde er zum Allerheiligsten selbst, das sie in einem Kästchen aus Hickory-Holz auf ein besticktes Baumwollkissen betteten, es auf einen Sockel stellten, um den Sockel herum einen Andachtsraum aus behauenen Balken errichteten und begannen, tagtäglich zu ihm zu beten. Da die Shawnee sich nicht wieder zeigten, galt es in New Herford als ausgemacht, dass der Nagel weiterhin heilsame Kräfte entfalte. Als auch die Ernte sowohl an Mais wie an Kartoffeln und Gerste besonders gut ausfiel, festigte sich diese Überzeugung, und auch in den umliegenden Counties begann der Kult des rostigen Nagels sich auszubreiten und schlug sich in reger Wallfahrtstätigkeit nieder, die zusätzlich den Wohlstand der New Herforder mehrte.

Eine sehr geliebte Cousine der Martha Rosen, Melanie Rosen, war schwer an den Lungen erkrankt, lag fiebernd und geschwächt im Bett und spie Blut, und Martha Rosen, die ohne dieses Mädchen, das den weiten Weg von Westfalen hierher mit ihr gemacht hatte, kaum glaubte weiterleben zu können, verfiel in ihrer Verzweiflung darauf, ein wenig Rost von dem Nagel abzuschaben und ihn der Kranken in einem heißen Aufguss zu trinken zu geben. Als Melanie nun, wahrscheinlich allein auf Grund ihrer urgesunden Konstitution, genas, wuchs Marthas Jubel ins Ungemessene. Die Wundertätigkeit des Nagels galt ihr als ausgemacht, Lieder wurden auf ihn gedichtet, singend gab die Gemeinde ihn herum, und jeder berührte ihn andächtig mit der Zungenspitze. Zwar gab es weiterhin Krankheits- und Todesfälle, aber nicht diese schienen den Gläubigen bemerkenswert, sondern die weiter anhaltenden Rettungen, Heilungen und kleinen Erfreulichkeiten, unter denen nicht die geringste diejenige war, dass der Nagel offenbar Frauen fruchtbar zu machen vermochte, wodurch der Kinderreichtum wuchs, mit ihm die Zahl der Arbeitskräfte, und da Land in Hülle und Fülle durch bloßes Roden der unendlichen Waldungen zu gewinnen war, dehnte sich New Herford bald in stattlicher Größe nach Westen weiter aus.

Alister Joyner, dem Prediger, war der Kult um den rostigen Nagel längst entglitten, und als der für New Herford zuständige Bischof der Episcopal Church einen Vertrauensmann suchte, der dem neuheidnischen Unwesen Einhalt gebieten könnte, fiel die Wahl auf ihn. Joyner war froh, den Fehler, den er begangen hatte, als er mit dem rostigen Nagel in der Hand durch die Ansiedlung gelaufen war, wieder gutmachen zu können, rief die Einwohner in der Kapelle des rostigen Nagels zusammen, predigte ihnen das einzig wahre Evangelium dessen, der am Kreuz starb, und forderte sie zu Umkehr und Buße auf. Hierüber erhob sich ein Sturm der Entrüstung vor allem dann, als er den Nagel ergriff, ihn zu Boden warf und zornig auf ihm herumtrampelte. Schreiend vor Wut stürzte sich Martha Rosen auf ihn, riss ihn zu Boden, und die Gemeinde ruhte nicht, bis sie den Frömmigkeitsworte Lallenden in die Bewusstlosigkeit getreten und gewürgt hatten.

Wie eine Furie stand Martha Rosen, die rote Mähne schüttelnd, vor dem Schrein, in den sie den Nagel zurückgelegt hatte, und schrie: „Hat man uns denn im Namen dieses scheinheiligen Glaubens nicht in Europa entrechtet und in die Armut getrieben, so dass uns nichts weiter übrig blieb, als hierher zu flüchten? Die Christen predigen die Liebe und leben den Hass!“ Damit wandte sie sich zu dem Kästchen um, in dem der Nagel wieder ruhte, fiel davor auf die Knie, öffnete die Arme und murmelte: „Nagel aller Nägel! Vergib die Misshandlung, die ein Ungläubiger dir zuteilwerden ließ! Wir werden dich besser zu schützen wissen in Zukunft. Süßer Nagel, erfülle uns mit deiner Kraft, mit der eisernen Fülle deiner unergründlichen Härte!“ So und ähnlich betete sie weiter und ruhte nicht, bis die Andächtigen in fromme Verzückung gerieten, schrien, sich zu Boden warfen und zuckten.

Der Bischof aber, als er erfuhr, wie man seinen Legaten in New Herford behandelt hatte, zögerte nicht, den Gouverneur um Unterstützung zu bitten, und da gerade der zweite amerikanisch-englische Krieg ausgebrochen war, stand ein Kontingent Männer unter Waffen, das dem bewährten General Elridge unterstellt und nach New Herford in Marsch gesetzt wurde. Die Shawnee aber, durch die amerikanischen Einwanderer aus ihren Jagdgründen und angestammten Siedelgebieten verdrängt, sahen in der Unterstützung der Krone ihre letzte Chance und boten New Herford Hilfe an. Martha Rosen berief die Gemeinde zur Abstimmung ein; die meisten Einwohner glaubten nicht an ein Umdenken bei den Indianern und warnten davor, mit ihnen zu paktieren. Doch da erhob sich Joshua Beilman und sagte, der Shawnee, den er seinerzeit, als das Tau sich am Nagel verhakte, erschossen hatte, sei ihm im Traum erschienen und habe in makellosem Englisch zu ihm gesagt: „Hiermit tue ich dir kund und zu wissen, weißer Bruder, dass ich, Fetter Waschbär, es war, der das Tau um den Nagel wickelte, um die schöne Squaw mit den roten Haaren zu retten, die mein Herz gewonnen hatte. Mein Bruder, Weißer Rabe, ist jetzt Häuptling, und wenn er euch Hilfe anbietet, ist seine Zunge nicht gespalten.“

Martha Rosen war errötet. Sie dankte ihrem Bruder, dankte dem Nagel, fiel auf die Knie, bat die Seele des erschossenen Shawnee um Verzeihung und bat um Segen für den bevorstehenden Kampf. Es zeigte sich, dass der Häuptling der Hathawekela, des Shawnee Unterstammes, der mit ihnen paktierte, nicht Weißer Rabe, sondern Schwirrende Sehne, und sein erschossener Bruder nicht Fetter Waschbär, sondern Kluge Elster hieß. Aber das hielt Martha Rosen nicht davon ab, mit Schwirrende Sehne die Friedenspfeife zu rauchen. Die kleine Stadt spitzte und befestigte ihre Palisaden, besetzte die Schießscharten mit ihren besten Schützen und harrte ruhig und zuversichtlich des Feindes.

Die reguläre Truppe rückte im Morgengrauen an, wurde zunächst mit Gewehrsalven dezimiert und zurückgeschlagen. Dann brachte sie jedoch Feldschlangen in Stellung und warf Genie-Soldaten nach vorn, bewehrt mit Schilden und Leitern, um damit die Befestigung zu überwinden. In diesem Moment nun erscholl das ohrenbetäubende Kriegsgeheul der Hathawekela, die aus dem Wald hervor dem Kontingent in den Rücken fielen und Hunderten von Soldaten die Schädel spalteten. Auf ganzer Linie geschlagen, gab sich General Elridge gefangen und wurde von den Nailisten – so nannte man sie nach dem englischen Wort für Nagel – gekreuzigt. Der neue Glaube erhob sich riesenhaft und im Bündnis mit den Ureinwohnern des geplünderten Kontinents und der britischen Krone gegen den jungen Staatenbund, und die Geschichte hätte womöglich einen anderen Verlauf genommen, wäre das Kästchen aus Hickory-Holz nicht am Abend der Schlacht, als die dankbaren Bewohner von New Herford, durchmischt mit Shawnee in voller Kriegsbemalung, die Vermählung von Martha Rosen mit Schwirrende Sehne feiern wollten, leer gewesen. Entsetzen und Ratlosigkeit machten sich breit, als alle Nachforschungen und Drohungen ergebnislos blieben, und einem zweiten militärischen Aufgebot der Union wenige Tage später war es ein Leichtes, New Herford zu erobern, seine Bewohner, soweit sie nicht gefallen waren, in alle Winde zu zerstreuen und den Schauplatz des schändlichen Rückfalls ins Heidentum dem Erdboden gleich zu machen, so dass keine Spur von ihm blieb.

Martha Rosen aber, jetzt Squaw von Schwirrende Sehne, soll mit den Hathawekela auf ihren endlosen Wanderungen in die immer weiter hinausgeschobenen Reservate mitgezogen sein. Das heutige Oberhaupt des kläglich zusammengeschmolzenen, einstmals stolzen Stammes heißt Rostiger Nagel, hat rotes Haar und residiert, immer betrunken, auf einem Haufen von Autos, die er von einem Lottogewinn gekauft und zu Wracks gefahren hat. Sein Namensgeber aber, der einstmals kultisch verehrte rostige Nagel, soll im Werkzeugkasten des Zimmermanns und Palisadenbauers Joshua Beilman unter Dutzenden anderer Nägel unauffindbar geworden sein.



Anmerkung von Quoth:

Ebenfalls geringfügig geändert von 2004 aus dem Forum "text fuer text"

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (20.02.22, 08:55)
Preiger -> Prediger

 Quoth meinte dazu am 20.02.22 um 10:24:
Erledigt.

 Lluviagata (02.03.22, 08:16)
Hallo Quoth,

das ist eine wunderbare Geschichte, die ich zu gern gelesen habe, die mich im Pferdegalopp mitgenommen hat. 
Als Liebhaberin der Werke Liselotte Welskopf-Henrichs war ich am Anfang schon entzückt, einen Indianer entdecken zu dürfen. Da ist aber der Nagel, der Hauptakteur. Ihn gab es schon, als Jesus ans Kreuz geschlagen wurde. Insofern finde ich auch das offene Ende der Geschichte traurig und faszinierend zugleich. 

Liebe Grüße
Llu ♥

 Lluviagata antwortete darauf am 06.03.22 um 09:51:
Hallo Quoth,
ich dachte mir, lies es noch mal ...
Ah, und nun ist die Geschichte, wunderbar abgerundet, einem weiteren Protagonisten in die Hände gegeben worden. Passt, wackelt und hat Luft. 

Liebe Sonntagsgrüße
Llu ♥

 AlmaMarieSchneider (05.03.22, 11:41)
Eine faszinierende Geschichte, gekonnt erzählt. Starke Sprache, die mich mitnimmt in ein Geschehen vergangener Tage und doch so aktuell.

Liebe Grüße
Alma Marie
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