Paris und Leda

Erzählung

von  Quoth

Was für eine fremde, was für eine manchmal bedrohliche Welt! Sie wimmelte von Taranteln, Fledermäusen, Molchen, Schlangen und Salamandern. Saugten die Fledermäuse unser Blut? Würde ein Tarantelbiss töten? Aber diese Welt war zugleich freundlich, zugewandt, nahrhaft, wohlschmeckend und schön! Wenn Paris, der alte Gartenbesorger, mit seiner Frau Leda von den tiefer gelegenen Beeten heraufgestapft kam, stolz die Schlange zeigte, die schlaff in der Astgabel hing, mit der er sie erwürgt hatte – und uns dann die Plastiktasche reichte, angefüllt mit Zucchini, Auberginen, Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch, manchmal waren auch Kirschen und Pfirsiche dabei – dann waren wir verlegen, weil er uns die Rolle von Gutsherren überstülpte – und dabei waren wir nur Feriengäste eines Schweizers, ich dankte ihm vielmals in meinem eingerosteten Italienisch, und Leda lud uns ein, einmal zu ihnen essen zu kommen – bei ihnen würden wir die Küche der Tos-hana kennenlernen … Sie schwangen sich in ihren Ape und bretterten in einer Zweitakter-Staubwolke davon. Das waren Paris und Leda, eigentlich hätten sie Philemon und Baucis heißen müssen, und wir, die zugereisten Gäste aus dem fernen Germanien, waren die Götter, die von ihnen verwöhnt wurden! Julia, Du liebe, blicktest mit leuchtenden Augen zu ihm, dem Schlangentöter, auf und wolltest das gestreifte Untier unbedingt aus der Nähe betrachten, Anna sicherte sich ein paar Kirschen, und Jan speicherte gelassen jedes Detail, auch die Verlegenheit seiner Eltern, in seinem ebenso bewundernswerten wie gefährdeten Gedächtnis, über das manchmal eine schwarze Wolke zog.

Und gingen wir zu ihnen essen? Natürlich! Es wäre nicht bescheiden, sondern unhöflich gewesen, diese Einladung nicht anzunehmen. Aus den Fenstern ihrer im vierten Stock gelegenen Wohnung konnten wir über die schiefergedeckten Häuser der Altstadt blicken, drei grau getigerte Katzen mit buschigen Schweifen gingen dort ein und aus, Paris beteuerte, sie hätten noch nie eine Pfote auf den Erdboden gesetzt, und Leda bewirtete uns mit Panzanella, einem mit ölgetränktem Brot angemischten Salat, es folgten Tintenfischnudeln und dann ein rätselhaftes Gericht, Cacciucco, eine Art tos-hanischer Tomatensuppe, in der Knurrhahn, Muscheln und Garneelen schwammen, zum Abschluss gab es eine Torta della Nonna, einen köstlichen Zitronenkuchen, dazu tranken wir Vernaccia di San Gimignano, den Wein, der schon Dante und Boccaccio inspirierte (warum nicht auch mich?), und mittels Espresso frischten wir Eltern unsere Lebensgeister wieder auf, während die Kinder spremuta d‘arancia mit Strohhalmen schlürften. Wenn ich doch alles verstanden hätte, was die beiden uns erzählten! Sie waren mit halb Volterra verwandt und verschwägert, hatten vierzehn Enkel und bereits vier Urenkel, aber auch viele Krankheits- und Todesfälle zu beklagen, und ihren Schwiegersohn, den alabastraio an der Piazza della Pescheria, müssten wir unbedingt besuchen!

Und so spazierten wir an einem Regentag durch die Werkstatt von Antonio, einem der vielen Schwiegersöhne von Paris und Leda. Alabaster ist weißer kristalliner Gips, ist sehr leicht zu bearbeiten und hat oft bräunliche Einlagerungen, die das Werkstück wie gemasert aussehen lassen. Anna entschied sich für einen Eierbecher, Jan für einen wolkig durchzogenen Teller, Julia für eine wunderschöne Vase oder Urne, noch nicht ahnend in ihrer munteren Kinderanmut, dass ihre Asche 38 Jahre später in einer solchen auf dem Melatenfriedhof in Köln beigesetzt werden würde, und ich wählte eine schneeweiße Étagère, nachdem ich eine Weile um eine ebenso schneeweiße Venus von Milo herumgeschlichen war, die mitzunehmen ich mich aber schämte vor meiner Frau, die ein Herz aus Alabaster erwarb. Und während Hammer und Meißel ihr Kling-klong erzeugten, erscholl aus einem Kofferradio ein Schlager: „Vagabondo!“ sang der wohlklingende Bariton von Nicola di Bari und beklagte, dass er einsam und barfuß durch die Straßen ziehe, weil er seine Schuhe längst habe verkaufen müssen … Die Étagère schenkte ich meiner Mutter, sie liebte sie sehr, sah zu, dass immer Obst darauf lag, und sie begleitete sie bis ins Altersheim und bis zu ihrem Tod.

 




Anmerkung von Quoth:

Angeregt von Pearls Tagebuch  Sommer.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (14.02.25, 08:00)
Hallo Quoth,

das ist mal eine durch&durch schöne Erinnerung an ungetrübt-glückliche Tage.
Mögen die sich wiederholen und lange :) , lange vorhalten!

 Quoth meinte dazu am 14.02.25 um 20:44:
Es waren glückliche Tage, lieber AchterZwerg, sie kommen nicht wieder, aber sie halten noch vor! Von schönen Erinnerungen kann man wohl bis ans Lebensende zehren!

 Pearl antwortete darauf am 15.02.25 um 17:20:
"Von schönen Erinnerungen kann man sein Leben lang zehren",, das hörte ich auch einmal aus dem Mund meines Vaters. Früher hatte er ein abenteuerliches Leben, er ist weit gereist... oft auch alleine.

Aber als er das meinte, dachte er an die Tremitiinseln, wo wir in Fischschwärme gerieten: er, meine Schwester und ich.

Das Besondere daran war, dass wir dieses Erlebnis miteinander teilen durften.
Das Besondere an deiner, dieser, Erinnerung, diesem Text, den ich gerade eben entdeckt habe, ist nicht Alabaster, nicht die Souvenirs, auch nicht das Essen... Sondern die gemeinsame Erfahrung. Und die Erfahrung des Lebens in seiner vergänglichen  Schönheit.

Antwort geändert am 15.02.2025 um 17:24 Uhr

 Quoth schrieb daraufhin am 15.02.25 um 17:36:
Ja, auf das Meer müsste ich noch zu sprechen kommen ... Denn das gehörte - nach rund 40 km Fehrt - auch dazu! Danke Dir sehr!

 Saudade (15.02.25, 23:46)
Großartig geschrieben. Ich gebe aber zu, mir verging der Appetit.

 Quoth äußerte darauf am 16.02.25 um 08:23:
Ach, Du bists! Welcome back. Dass Du eine Bereicherung der Prosafraktion bist und sehr gefehlt hast, muss ich Dir nicht sagen. 
Ja, uns war auch beinah schlecht zum Schluss. Tos-hanische Kost ist gewöhnungsbedürftig. Aber die beiden waren so lieb um uns besorgt und so stolz auf das, was sie auf den Tisch stellten -  da durften und konnten wir nicht oft genug "Nein, vielen Dank" sagen!

 Saudade ergänzte dazu am 16.02.25 um 11:46:
:)
Zumeist habe ich Angst, wenn einer sagt:"Lass dich überraschen."
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