Kriegskind II

Novelle

von  Quoth

Aber woher kannte Larissa die Wahrheit? Ihre Mutter war vor zwei Jahren an Krebs verstorben, und ein Jahr später erkrankte auch ihr Vater an einem nicht operierbaren unheilbaren Karzinom. Auf dem Sterbebett rief er seine Tochter zu sich – sie war die einzige, die noch zu Hause war und war immer der Liebling ihres Vaters gewesen – und eröffnete ihr, dass es ihn drücke, immer zu feige gewesen zu sein, seiner Frau die Wahrheit zu sagen. Ja, er brachte diese Lüge mit ihrem und seinem Krebs in Zusammenhang – und starb bald nach seinem Geständnis. Kann der Krebs psychische Ursachen haben? Es wäre falsch, in deinem Leben, liebe Tochter, nach einer Lüge, einer schweren Frustration zu suchen, gleichsam um dir selbst die Schuld an deiner Krankheit zuzuschieben. Es müsste dann ja ein großes Glückserleben auch heilende Wirkung entfalten können, und dieses Glückserleben hattest Du: Dein Töchterchen, aber dieses Glück schlug um in dein größtes Unglück, als du unheilbar erkranktest und dich verurteilt sahst, Matildchen vorzeitig und für immer verlassen zu müssen. Aber ich fahre in Larissas Erzählung fort:

 

       Als Robert Wolf erkannte, dass er mit seinen naiven Vorstellungen von Ehre und Vaterland von den Nazis bösartig hintergangen, getäuscht und missbraucht worden war, brach für ihn eine Welt zusammen. Er trat in eine chiliastische Sekte ein, und von nun an lebte er in der sich fröhlich immer wieder erneuernden Erwartung, dass Jesus Christus demnächst, z.B. am kommenden Dienstag, wiederkehren würde. Warwara, die im nüchternen Protestantismus ohnehin die goldene Pracht der russischen Orthodoxie vermisste, schloss sich ihm an und suchte, im Gebet die aus dem Verrat herrührenden Selbstzweifel zu überwinden.

 

"Aber Warwara! Nicht ein einziger deiner Landsleute hat mit dem Leben für deinen Verrat bezahlen müssen."

 

"Ich glaube dir die Geschichte mit dem Zitronengraswodka nicht. Sie klingt irgendwie ausgedacht. Wären sie mit dem Leben davongekommen, man hätte mich nach dem Krieg nicht mit so viel Ausdauer gejagt."

 

"Du meinst, ich belüge dich?“

 

"Aus Liebe, ja. Um mein Gewissen zu entlasten. Vielleicht aber auch deins. Wenn du sie hast erschießen lassen, dann gnade dir Gott."

 

"Ich schwöre..."

 

"Pst, du weißt, dass wir nicht schwören sollen."

 

"Hättest du versucht, mich zu töten, wären alle des Todes gewesen ... Denen hast du das Leben gerettet."

 

"Es war Verrat. Und hätte ich damals gewusst, was ich erst später erfuhr, nämlich was ihr Deutschen mit meinen Landsleuten und vielen, vielen anderen alles angestellt habt – ich glaube, der Abglanz meiner Liebe zu Großvater Aaron hätte dich nicht retten können."

 

"Ich habe es selbst erst nach dem Krieg erfahren."

 

"Dann bist du als Soldat mit Tomaten auf den Augen herumgelaufen."

 

"Was sind das für Redensarten?"

 

"Ich habe sie von Nikolai. Ich konnte das Hundehalsband nicht finden, es hing an der Tür, und da sagte er das zu mir. Kann man nicht so sagen?"

 

"Nicht in einem so ernsten Zusammenhang."

 

*

 

Nach dem Krieg hatte eins der berüchtigten Repatriierungs-kommandos, die durch das besiegte – und befreite – Deutschland fuhren, um verschleppte Landsleute zur Not auch gegen ihren Willen ins Heimatland der Werktätigen zurückzubringen, Warwara Bjelousowa ganz oben auf seiner Liste stehen. Und da ihnen die Personalien des Lagerleiters bekannt waren, spürten sie sie bei dessen Eltern auf, die im Bergischen eine Drahtzieherei betrieben. Dort arbeitete sie unter dem Namen Elisabeth Wolf, geborene Reiterstein, als Wicklerin, war mit Robert Wolf bereits verheiratet und hatte mit ihm eine Tochter, Jelena, und einen Sohn, Nikolai, aber noch nicht Larissa – die kam als letzte Frucht dieser Ehe erst rund ein Jahrzehnt später zur Welt.

 

Sie verhafteten sie.

 

Sie floh.

 

Sie verhafteten sie erneut.

 

Sie floh erneut.

 

Und weil aller guten Dinge drei sind ...

 

Wie sie's anstellte, zu fliehen, soll ihr Geheimnis bleiben. Waren ihre Fänger dem Alkohol zu ergeben? Oder ihrem weiblichem Charme erlegen? War sie einfach gerissen? Todesmutig? Sprang aus dem fahrenden Uralski? Um nicht an die Wand gestellt zu werden, nimmt frau schon mal ein paar Schrammen in Kauf …

 

Dreimal kam sie in der Drahtzieherei wieder an, und ein viertes Mal kamen ihre Verfolger nicht. Vielleicht hatten sie die Lust verloren. Oder der Leiter des Kommandos war bei irgendeinem von Dschugaschwilis Würgern in Ungnade gefallen. Oder man vergaß sie nun doch ganz einfach. Jedenfalls durfte sie bleiben – und das war nicht völlig unwichtig. Denn  Larissa war noch immer nicht gezeugt. Und wenn Warwara Bjelousowa in Workuta gelandet wäre wie der Vater eines Westberliner Freundes, der – ein halbes Jahr nach dem Krieg, also zur selben Zeit – nur mal eben einen Tisch aus seiner Ostberliner Wohnung holen wollte, dann hätte ich mit siebenunddreißig dumm dagestanden, denn es wäre kein Mädchen mit breitem Gesicht und trägem Gang in mein Leben gelatscht, hätte wie ein Katalysator meine Ehe zur Explosion gebracht und meiner Biographie eine völlig neue Wendung gegeben.

 




Anmerkung von Quoth:

Wird fortgesetzt

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