Kriegskind III

Novelle

von  Quoth

Ich starrte Larissa an, die mir viel mehr als das Wenige, was ich daraus herausfiltere, in einer Unordnung erzählt hatte, für die sie den Ausdruck Kurmel parat hatte. Da waren nun die russischen und die bergischen Gene ihrer Eltern in ihr zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen, die ich nicht anschauen konnte, ohne vor Sehnsucht und Begehren halb umzukommen. Nicht dass ich sie liebte und begehrte, war eigentlich das, was mich beunruhigte – diese Gefühle gaben mir eine Richtung, ordneten mich innerlich an – nein, ich empfand keine Schranke zwischen ihr und mir. Z.B. jene gesunden und nützlichen Gefühle des Ekels, die uns vor den Körperflüssigkeiten fremder Menschen erfüllen und es uns dadurch erleichtern, uns von ihnen abzugrenzen: Sie waren Larissa gegenüber nicht nur nicht vorhanden, sondern hatten sich in das Gegenteil verkehrt, ich dürstete förmlich nach ihrem Speichel, ihrem Schweiß – und manchmal ihren Tränen. Sie war nicht einmal besonders schön: Ihr Gesicht war unten breit wie das der Mutter, oben war's schmal wie beim Vater. Goldene Locken sprossen mit ungestümer Gewalt bereits aus den Schläfen hervor und widerstanden dem Wind wie die Zweige der Birken: durch Nachgeben.

 

"Warum hat deine Mutter eigentlich Deutsch studiert?", fragte ich sie. Larissa zuckte die Achseln. Offenbar wusste sie's nicht oder nicht genau, fand die Möglichkeit, wieder etwas hervorzusprudeln aber viel zu verlockend, um nicht darauf einzugehen:

 

„Das hat mit Großvater Aaron zu tun,“ erzählte Larissas Mutter, behauptet Larissa, „der hatte im Hinterzimmer seiner Schuhmacher-Werkstatt eine kleine Bibliothek, und wenn er aufgeräumter Stimmung war, dann öffnete er einen der mit Glasklappen versehenen Lindenholzschränke und entnahm ihm eine Dünndruckausgabe der Werke von Friedrich Schiller, schlug irgendetwas darin auf und begann, es mir vorzulesen. Ich verstand nichts davon, aber es klang so schön, dass ich's unbedingt verstehen wollte. Ich habe das Lied an die Freude und die Glocke schon auswendig gekonnt, bevor ich auf Deutsch Hallo, wie geht's sagen konnte. Deshalb wohl habe ich mich um ein Deutschstudium beworben …"

 

"Es ist furchtbar, in diesen Strudel, in dieses Chaos hineinzublicken, aus dem du hervorgegangen bist ..."

 

„O, der Strudel ist noch viel schlimmer. Möchtest du noch eine Haloperidol-Geschichte hören?“

 

Ich winkte dankend ab, die Geschichten kreisten um ein Jahr, das Larissa wegen Herumtreiberei in der Psychiatrie von Bielefeld verbringen musste und mit dem damals noch ganz neuen Haloperidol, der chemischen Kette (oder Keule), ruhig gestellt worden war.

 

Sie stand auf. "Ich bin müde", sagte sie. "Kommst du noch zu mir?" Ich schüttelte den Kopf. Sie lächelte, griff gleichgültig nach einer Illustrierten und einem Apfel und ging träge hinaus.

 

Ich wusste, was mir bevorstand, hörte das Klicken, mit dem sie ihre Ohrringe im Bad auf die Konsole schmetterte, das Rauschen, mit dem sich ihre Blase leerte ... Unsere Wohnung war klein, beengt, hellhörig – aber wie vor aller Welt verborgen und geschützt. Tief darunter ruhten in Vitriol die Leichen der 1868 verschütteten Bergleute der Zeche Neu-Iserlohn.

 

Als es still wurde, wusste ich, dass Larissa jetzt wie eine Odaliske von Ingres auf dem Bett lag. Ich hörte, wie sie mit klatschendem Geräusch die Seiten der Illustrierten umschlug.

 

Es klatschte.

 

Aber ich ging noch nicht hinüber, ich wollte sie mir vorstellen – und ihrer Haut Zeit geben, die banalen Spuren von Slip und Büstenhalter verschwinden zu lassen, die die reine Weiße und Marmorhaftigkeit ihres klassisch-schönen Körpers beeinträchtigten.

 

Es fehlte jetzt nur noch eines: Das knackende Knirschen, mit dem sie ihre schneeweißen Zähne in den Apfel schlug und ihn zerriss.

 

Kratsch!

 

Ich sah hinaus, sah, wie die Birke sich beugte. Blitze zuckten und tauchten Bäume und Häuser in das weißlich-unwirkliche Licht eines überbelichteten Fotos.

 

Ich war glücklich – und genoss es, zu leben.

Und ich klammere mich an dies Glück – und hoffe, dass auch du, liebe Tochter, ein solches Glück, an das du dich klammern konntest, als du wusstest, dass es zu Ende ging, erlebt hast. Vielleicht auf Kuba – mit dem Yoruba, der dich ins Brauchtum der Santeria einführte und mit Hühnerblut bespritzte?



          



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