Der Professor und ich (tragen die Kaper durch sieben Höllen) V
Erzählung
von autoralexanderschwarz
Als wir in der Straßenbahn sitzen, muss ich lachen, weil sich die Straßenbahn ein wenig so anfühlt wie die Achterbahn. Es fehlt nur der Sicherheitsbügel und es geht nicht auf oder ab, sondern nach links und rechts. Wäre die Straßenbahn ein Schlauch, denke ich, würde sie bei diesen scharfen Biegungen abknicken, aber wenn man einmal den richtigen Rhythmus gefunden hat, kann man sich richtig in die Kurven legen und obwohl ich weiß, dass es nicht stimmt, fühlt es sich so an, als ob die ganze Straßenbahn dadurch ein wenig schneller würde.
„Stell dir mal vor, wie das wäre“, sage ich, „wenn die Straßenbahnen der Zukunft nur so wenig Energie benötigen würden, dass die Fahrgäste sie allein durch ihre Körperbewegungen beschleunigen könnten. Man müsste das natürlich noch genauer durchdenken“, sage ich,
„also dass es da so ein Limit gibt, damit die Bahn nicht zu schnell wird und es müsste auch eine behindertengerechte Lösung geben, dass man bspw. ein kleines Laufband einbaut, auf dem dann auch die Rollstuhlfahrer ihren Beitrag leisten könnten. Der gesamte Schienenverkehr wäre dann umsonst“, sage ich, „weil er sich ja selber antreiben würde.“
„Kann schon sein“, antwortet der Professor und betrachtet dabei ein Schild, auf dem steht, dass Bildung glücklich mache.
„Man könnte den natürlichen Magnetismus bestimmt noch viel effizienter nutzen.“
„Ich finde das übrigens gut“, sage ich, „wie du das eben gemacht hast. Du hast genau den richtigen Ton getroffen. Ich hätte das nie so hinbekommen. Ich war irgendwie eingefroren, als er gesagt hat, dass er mich mit seinem Messer stechen will. Ich konnte mich zuerst gar nicht mehr bewegen.“
„Ach“, sagt der Professor und schaut zu dem Schild,
„für mich war das nur eine kleine Heldentat.“
„Δός μοι ποῦ στῶ, καὶ τὴν γῆν κινήσω“, sagt der Professor.
Dann erreichen wir unser Ziel und steigen aus der Straßenbahn.
Vor uns liegen weite Wiesen und dahinter der Rhein. Menschen sieht man nur vereinzelt, während über all dem die Sonne bereits das erste Rot in den Himmel streicht.
„Wir haben alles richtig gemacht“, sage ich, „richtig, weil wir genau jetzt genau hier sind.“
Und dann weichen wir vom Weg ab und gehen durch das weiche Gras auf den Rhein zu.
„Wir können uns jetzt einfach da hinlegen“, sage ich, weil ich nicht verstehe, warum der Professor immer weiter geht.
„Wir haben doch schon alles, was wir brauchen.“
Wir erreichen eine kleine verlassene Feuerstelle, an der wir uns schließlich niederlassen.
„Schau mal, was ich gefunden habe“, sagt der Professor und zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche. „Die waren noch in meiner alten Jacke.“
Sofort entbrennt in mir ein gewaltiges Verlangen zu rauchen.
Ich habe schon so lange nicht mehr geraucht.
„Ich habe nur kein Feuer“, sagt der Professor, „sie sind nutzlos.“
Er wirft sie zwischen uns auf den Boden.
„Ich habe aber noch was Anderes“, sagt er und zieht das kleine Plastiktütchen mit den beigen Tabletten hervor.
„Du hast es in der Petersilie liegengelassen.“
Ich bin ganz verblüfft.
„Warum hast du denn dann nicht den Betrunkenen eine gegeben? Vielleicht wären die dann ein wenig friedlicher geworden?“
„Wir hätten sonst nicht genug gehabt“, erklärt der Professor.
„Wir haben noch sechs“, sage ich, „das sind doch mehr als wir brauchen.“
„Das denke ich nicht“, sagt der Professor,
„das ist genau die Menge, die wir brauchen. Ich würde sagen, dass wir nun ja im Umgang mit dieser Droge schon recht erfahren sind. Wenn wir die Pforten unserer Wahrnehmung noch ein wenig weiter öffnen wollen, dann reicht es wohl nicht, mit dem Handrücken über den Türgriff zu streichen.“
„Meinst du, dass wir zwei auf einmal nehmen sollen?“
„Ich denke, dass es nur Sinn macht, wenn wir alle drei nehmen“, sagt der Professor, „dann bleibt auch nichts übrig, alles geht auf. Die Drei ist auch eine viel sympathischere Zahl als die Zwei.
Wir müssen uns nur eine Höhle bauen, um uns vor den Blitzen zu schützen.“
„Ich habe nicht verstanden, warum wir drei nehmen müssen“, sage ich, „aber da vorne liegt Holz.“
Und tatsächlich finden wir rasch genug Äste und Zweige, um eine kleine Höhle zu bauen, die wir dann nach oben hin mit Gras und Laub abdichten. Gemütlich ist unsere Höhle und gerade so groß, dass man im Schneidersitz nebeneinandersitzen kann. Nach vorne haben wir sie offen gelassen, damit man den Rhein und den Sonnenuntergang sieht.
„Meinst du, dass das Dach stark genug ist, um die Blitze abzuwehren?“, frage ich den Professor.
„Ich denke schon“, antwortet er. „Eigentlich fehlt uns nur etwas aus Metall. Hätten wir den Schürhaken dabei, hätten wir einen Blitzableiter bauen können. So ist es wohl nur ein einfacher faradayscher Käfig, aber das muss reichen.“
„Ich präsentiere“, sagt der Professor, „alles was noch fehlt“ und zieht das Tütchen hervor.
„Ich weiß nicht“, sage ich, „der Typ, von dem ich die habe, meinte, dass ich nicht zu viel davon nehmen soll. Er sagte, dass sie sehr stark seien.“
„Grundsätzlich war dies wohl auch ein guter Rat“, sagt der Professor, „aber er wusste ja natürlich auch nicht, wer wir sind“, ergänzt er, „und er hat wohl auch nicht unsere Höhle gesehen. Wir sind ja auf alles vorbereitet und haben einen Eingang, den man zu zweit leicht verteidigen kann. Einen solchen Schutz haben wohl die Wenigsten.“
„Na gut“, sage ich, weil er recht hat, lege mir die drei beigen Tabletten auf die Zunge, beobachte den Professor, der das gleiche tut, dann spülen wir die Tabletten mit einem Schluck Mineralwasser herunter.“
„Dies ist ein recht gutes Mineralwasser“, sagt der Professor, während er das Etikett studiert, „manchmal habe ich nämlich das Gefühl, dass mir Magnesium fehlt“,
„das kenne ich“, antworte ich und bin ganz gerührt über diese Gemeinsamkeit,
„ich weiß nicht, ob es von der ganzen Werbung kommt, aber manchmal habe ich auch das Gefühl, dass mir Magnesium fehlt. Ich konnte es nur nie so gut in Worte fassen.“
„Ich glaube die Tabletten wirken nicht“, sagt der Professor,
„die machen das manchmal, dass die so eine Charge mit Blindgängern auffüllen. Da kann man eine Menge mit dazuverdienen.“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich hab gar kein Zeitgefühl. Die Sonne geht schon die ganze Zeit unter, aber sie bewegt sich nicht und es wird auch nicht dunkler.“
„Das liegt am Nichts“, sagt Atreju, „das jetzt schon fast alles aufgefressen hat.“
„Wo kommst du denn auf einmal her?“, frage ich und bin ganz erschrocken, dass Atreju in unserer Höhle sitzt, die gerade genug Platz für zwei bietet. Wieder ist er nur mit einem Lendenschurz bekleidet und ich sorge mich, was die Leute denken könnten. Was, wenn nun zufällig einer in unsere Höhle schaut?
„Das ist ernst“, sagt Atreju und er sagt es so ernst, dass auch ich sofort ernst werde.
„Die Menschen spüren das vielleicht nicht, aber sie können es fühlen, denn mit dem Nichts kommt eine große Leere über alles und das, was vorher noch lustig und voller Spaß war, wird traurig und langweilig“, sagt Atreju. „Meine Welt geht zwar unter, aber eure Welt ist dann auch nicht mehr schön.“
„Das ist ja furchtbar“, sagt der Professor, der wie ich wirklich sehr erschrocken ist,
„warum hast du uns nicht früher davon erzählt?“
„Ihr wart noch nicht bereit“, antwortet Atreju, „erst jetzt, wo ihr euch bis zur Besinnungslosigkeit berauscht habt, ist es mir möglich, euch den Weg hinüber in die andere Welt zu zeigen.“
„Dann ist es ja gut“, sagt der Professor.
„Das ist überhaupt nicht gut“, sage ich, „ich mag diese Welt und möchte gerade in keine andere.“
„Ich glaube nicht, dass wir wirklich eine Wahl haben“, sagt der Professor.
„Atreju sagte ja schon, dass die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht.“
„Was müssen wir denn machen?“
„Es ist eigentlich ganz einfach“, erklärt Atreju.
„Es gibt einen Ort in meiner Welt, den das Nichts noch nicht erreicht hat. Es ist ein alter und heiliger Ort, der bislang noch dem Nichts standhält. In eurer Sprache würde man ihn „Ort, an dem alles gedeiht“ nennen. Wir nennen diesen Ort so“,
„ja“, unterbreche ich ihn,
„ihr nennt diesen Ort so, weil dort alles gedeiht.“
„Unterbrich ihn doch nicht“, unterbricht mich der Professor,
„so dauert es ja sogar noch länger.“
„Die Sache hat nur einen Haken“, sagt Atreju,
„denn dort müsst ihr etwas pflanzen, das es in meiner Welt nicht gibt.“
„Was kann man denn pflanzen?“, frage ich.
„Alles“, antwortet Atreju. „Es ist ein Ort, an dem alles gedeiht.“
„Könnte ich zum Beispiel diese Zigaretten pflanzen?“, frage ich.
„Sie würden wachsen“, antwortet Atreju, „aber Tabak gibt es auch bei uns. Wir haben schon lange vor den Menschen geraucht.“
„Dann ist es ja hoffnungslos“, sage ich, „wenn sie sogar schon Zigaretten haben.“
„Kapern“, ruft der Professor in diesem Moment.
„Gibt es bei euch Kapern?“
„Was ist Kapern?“, fragt Atreju und da ist auf einmal Hoffnung in seinen Augen.
Ich taste in meiner Hemdtasche und finde die letzte Kaper. Ganz klein und zerdrückt klebt sie in der Ecke. So klein, denke ich, und doch hat sie die Macht zwei ganze Welten zu retten.
„Also du bringst uns dorthin“, resümiert der Professor, „wir pflanzen die Kaper, retten deine und meine Welt und dann bringst du uns genau an diesen Ort zurück.“
„Wie lange wird es dauern?“, frage ich.
„In eurer Zeit nur ein paar Minuten, in meiner Welt aber werden wir ein paar Tage unterwegs sein.“
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
„Wir sind in ein paar Minuten wieder da“, sagt der Professor,
„aber wir werden Tage unterwegs sein“, sage ich.
„Und warum gehst du nicht alleine?“, frage ich Atreju, „ich kann dir gerne die Kaper geben.“
„Ich kann nichts von einer Welt in die andere tragen“, erklärt Atreju,
„selbst diesen Lendenschurz muss ich mir hier jedes Mal neu aus Gras flechten und binden.“
Das leuchtet mir ein und weil ich kein Spielverderber sein will, beschließe ich mitzumachen.
„Ich finde das gut, das wir das machen“, sagt der Professor,
„ab und zu sollte man auch ganz bewusst einmal etwas Gutes tun und wann hat man schon die Gelegenheit eine ganze Welt zu retten.“
„Was müssen wir denn jetzt machen?“, frage ich Atreju.
„Ihr müsst euch einfach nur entspannen und noch ein wenig abwarten“, sagt er,
„das, was ihr genommen hat, fängt gleich an zu wirken.“
„Ich glaube die Tabletten wirken nicht“, sagt der Professor,
„die machen das manchmal, dass die so eine Charge mit Blindgängern auffüllen. Da kann man eine Menge mit dazuverdienen.“
„Das hast du schon einmal gesagt“, sage ich, „gerade eben, das ist mein zweites Deja-Vu.“
„Stimmt“, sagt der Professor, „aber hing eben schon dieser bedrohlich große Feuerball am Himmel?“
Ich blicke auf und blicke durch die Wolken hindurch in das Universum. Es stimmt, ein riesiger Komet rast auf uns zu und er wird schnell größer.
„Wir müssen wegrennen“, rufe ich und will aufspringen,
„nein“, ruft der Professor:
„Nur hier in der Höhle sind wir sicher. Hier ist doch das Zentrum unserer Kraft.“
„Ich weiß nicht“, sage ich und betrachte den Kometen, der vor meinen Augen größer und größer wird. Der Einschlag steht bereits kurz bevor. Man kann schon die Wärme auf der Haut spüren, man kann sehen, wie sich die kleinen Härchen aufrichten und kräuseln.
Wenigstens geht es schnell, denke ich, wir werden verdampfen, noch bevor uns der Komet berührt.
Schade ist nur, dass so wenig Zeit bleibt.
Eine große Traurigkeit greift nach mir und schiebt sich wie ein Keil zwischen mich und den Professor, kriecht von innen an den Wänden unserer Höhle empor und macht alles schwarz und dunkel.
„Es hat doch gar keinen Sinn“, rufe ich und dann noch einmal: „Keinen Sinn. Wir werden wie Tropfen verdampfen“.
Und in diesem Moment der Hoffnungslosigkeit, als alles, wirklich alles verloren scheint, hebt sich wie aus dem Nichts die Stimme des Professors und er singt aus vollem Hals und mit sehr viel Gefühl:
„Mein Freund, der Baum...“, singt er, „...ist tot“ und ich begreife, dass ich mitsingen muss, weil unsere Stimmen nur gemeinsam ein akustisches Gegengewicht zu der Kraft des Kometen bilden können, der näher und näher rückt, und so hebe auch ich meine Stimme, erst verschämt und leise, verstecke mich hinter den Vokalen und der Stimme des Professors, doch dann immer lauter und befreiter:
„und fiel im frühen Morgenroooooooooot“, singe ich und in dem langen „o“ finden unsere Stimmen endlich zusammen und erzeugen einen mächtigen Ton, man spürt, wie die Kraft unserer Musikalität den Kometen abbremst, langsamer macht, bis er schließlich scheinbar ohne Bewegung in der Luft schwebt und er ist der Erde so nah, dass die Weltmeere verdampfen und dichte schwarze Wolken bilden, die sich um uns herum auftürmen, ein Sturm kommt auf, der an den Ästen und Zweigen unserer Höhle zerrt und dann brechen die ersten Blitze aus dem Himmel.
„Jetzt“ ruft der Professor gegen den Sturm an, „jetzt werden wir sehen, ob wir ohne den Schürhaken auskommen.“
Dann trifft der erste Blitz die Höhle, dann ein zweiter, dritter, doch unsere Sorgfalt beim Bau wird nun belohnt, die Äste halten stand, immer schneller kreist die Energie um uns herum,
immer heller glüht das Licht,
„jetzt“, ruft Atreju irgendwo in der Nähe,
„jetzt müsst ihr euch abstoßen.“
Und wir stoßen uns ab und geben der immer schneller um uns kreisenden Energie eine Richtung, nach vorne, von uns weg, auf den Kometen zu und wir sind schneller als das Licht, schneller als die Zeit und sammeln auf dem Weg auch genug Masse um den Kometen mit furchtbarer Gewalt von der Erde wegzustoßen und dann rasen wir weiter, lassen uns von dem Schwung tragen, durch die Atmosphäre hindurch, weiter, immer weiter.
Unsere Höhle ist nun unser Raumschiff, das wir mit kreisenden Fußbewegungen antreiben.
„Sag mal“, sage ich zum Professor, nachdem ich eine Weile in die Sterne geblickt habe:
„Müssten wir nicht ersticken, platzen oder erfrieren?“
Und nachdem ich es ausgesprochen habe, ist mir auf einmal sehr kalt.
Meine Beine fangen ganz unkontrolliert an zu zittern.
„Hier“, sagt der Professor und gibt mir seine zweite Jacke.
Sie fühlt sich sehr feucht an, aber sie ist warm und gemütlich.
„Das ist so nett von dir“, sage ich, „obwohl dir wohl hier draußen im Weltall doch auch kalt sein muss“, und dann werde ich so müde, dass es schwer ist an etwas anderes zu denken:
„Ich bin müde“, sage ich, „vielleicht bin ich noch nie so müde gewesen.“
„Dann schlaf doch ein wenig“, sagt der Professor sanft und bevor mir etwas einfällt, dass ich antworten könnte, schlafe ich ein.