Der Professor und ich (tragen die Kaper durch sieben Höllen) VI
Erzählung
von autoralexanderschwarz
Das erste, was ich höre, als ich wieder zu mir komme, ist der Klang von vielen kleinen Glöckchen, den nur ein Wind erzeugen kann, der sanft aber beständig durch sie hindurchstreicht, ein friedliches Geräusch, weil es dort, wo man ein so zartes Glöckchen hören kann, ansonsten ruhig und still sein muss.
Ich schlage die Augen auf und erschrecke für einen kurzen Moment, weil ich so hoch oben und alles andere so weit unten ist. Wir fliegen über endlose Graslandschaften, alles ist grün und lebendig und wir fliegen auf einem Glücksdrachen.
„Na“, sage ich zum Professor, der ein kleines Stück weit entfernt neben mir sitzt, und muss lachen.
„Da kommst du ja doch noch zu deinem Glücksdrachenflug.“
„Ich habe es mir unterhaltsamer vorgestellt“, antwortet der Professor,
„ich mache das ja jetzt schon eine Weile.“
„Wie lang habe ich denn geschlafen?“, frage ich und setze mich auf.
„Vielleicht drei oder vier Tage. Ich selbst kann einfach nicht auf diesem Pelz schlafen. Ich habe wohl eine Glücksdrachenallergie.“
Ich weiß nicht, ob der Professor scherzt, doch zumindest lässt er sich nichts anmerken.
Richtig glücklich sieht er nicht aus, obwohl wir doch auf einem Glücksdrachen reiten.
„Die Landschaft ändert sich auch nicht“, sagt der Professor.
„Ich kann nicht ausschließen, dass wir den Planeten bereits mehrmals umrundet haben.“
„Wir haben unser Ziel gleich erreicht“, ruft Atreju, der recht weit vorne, auf dem Hals des Glücksdrachens sitzt.
„Das ist ja ein großartiges Timing“, sagt der Professor.
„Ich habe gerade gemerkt, dass meine beiden Beine eingeschlafen sind.“
„Das ist kein Zufall“, ruft Atreju.
„Dein Freund musste doch erst erwachen, bevor wir unser Ziel erreichen konnten. Die Prophezeiung besagt, dass die Retter den Ort, an dem alles gedeiht, bei vollem Bewusstsein erreichen müssen.“
„Ich fühle mich auf jeden Fall sehr ausgeruht“, sage ich, als der Glücksdrache zur Landung ansetzt
und dann vollkommen lautlos und sanft vor einem riesigen Baum landet. Ganz unten, direkt über dem dichten Wurzelwerk, ist eine kleine reichverzierte Tür in das Holz eingelassen.
„Danke“, sage ich zu dem Glücksdrachen. „Das war echt nett von dir, uns den ganzen Weg zu tragen.“
„Ich nehme an“, sage ich, „dass der Ort, an dem alles gedeiht, direkt hinter dieser kleinen Tür im Baum ist. Wir gehen da jetzt einfach rein und pflanzen die Kaper und ihr wartet hier?“
„Es ist nicht ganz so einfach“, sagt Atreju.
„Vorher müsst ihr ja noch die sieben Höllen durchqueren. Ansonsten ist es aber so wie du sagst: Wir werden hier draußen auf euch warten. Seit ihr die Zeitmauer durchbrochen habt, ist es auch egal, wie lange ihr braucht. Wir warten hier, darauf könnt ihr euch verlassen.“
„Moment“, sage ich, „ich kann mich nicht erinnern, dass du etwas von sieben Höllen gesagt hast.“
„Doch“, sagt Atreju, „das habe ich sogar mehrmals gesagt.“
„Kannst du dich an etwas von sieben Höllen erinnern?“, frage ich den Professor, der einmal gesagt hat, dass er über ein eidetisches Gedächtnis verfügt.
„Nein“, antwortet dieser, „daran kann ich mich auch nicht erinnern.“
„Ist ja auch egal“, sagt Atreju, „das ändert ja ohnehin nichts.“
„Ich weiß nicht“, sage ich und beobachte misstrauisch die Tür.
„Beginnt die erste Hölle direkt hinter der Tür?“
„Nein.“
Atreju lacht und dann auch der Glücksdrache.
„Das ist nur der 'Baum der siebentausend Stufen'“, sagt Atreju,
„wenn man in die Hölle will, muss man schon erst einmal ein Stück nach oben klettern.“
„Was meinst du?“, frage ich den Professor.
„Sollen wir da reingehen? Der Kleine hat gesagt, dass wir die Zeitmauer durchbrochen haben. Wir müssen also nichts überstürzen.“
Und dann habe ich eine großartige Idee: Alles ergibt auf einmal einen Sinn.
„Du hast gesagt, dass wir Zeit haben“, sage ich zu Atreju und blicke ihn an,
„und du hast gesagt, dass ihr schon lange vor den Menschen geraucht habt.“
Atreju nickt.
„Ich würde gerne eine Zigarette, nein, besser: ich würde gerne einen Joint rauchen und ein wenig mit dem Professor auf dem Boden sitzen und mit den Händen durch das Gras streichen. Das war nämlich der Grund, aus dem wir aufgebrochen sind. Wenn wir das getan haben, dann gehen wir gerne durch diese sieben Höllen, wenn wir damit deine Welt retten können.“
Ich blicke hinüber zum Professor.
„Was sagst du?“, frage ich.
„Sieben Höllen für einen Joint“, sagt der Professor,
„das ist mal ein wirkliches Angebot."
„Das ist kein Problem“, antwortet Atreju.
„Die Joints wachsen hier an Bäumen.“
Er reckt sich ein Stück und pflückt uns einen großen und wohlgeformten Joint von einem Baum.
„Dieser riecht besonders gut.“
Nachdem der Glücksdrache uns Feuer gegeben hat, setze ich mich mit dem Professor auf den Boden und wir rauchen. Es ist eine große Freude den Rauch in die Lunge zu ziehen, ihn überall bis in die letzten Winkel des Körpers hinabzustoßen und ihn dann von überall dort wieder emporzuziehen, atmen, rauchen, schmecken.
„Dieser Joint kann überhaupt nicht wirken“, sagt der Professor,
„das macht ja gar keinen Sinn.“
„Darum geht es gar nicht“, sage ich, „ich kann nur mit der Kraft meiner Gedanken die Farbe des Rauches verändern. Schau mal“, sage ich und färbe den Rauch, den ich ausatme, grün.
„Erstaunlich“, sagt der Professor, „mir gelingt das nicht.“
„Wir könnten auch einfach hier bleiben“, sage ich.
„Warum soll man auch durch sieben Höllen gehen, wenn man unter einem Jointbaum leben kann?Alleine dieser Baum würde es vermögen, uns auf Jahre hinaus einen kleinen Rausch zu garantieren.
Und auch dieses ganzes lästige Gedrehe hätte dann endlich ein Ende.“
„Wir haben kein Feuer“, antwortet der Professor, „und wären damit auf den Glücksdrachen angewiesen.“
Und obwohl mich bereits dieser Satz überzeugt, ergänzt er:
„Und wir haben es Atreju versprochen.“
„Na gut“, sage ich, streiche noch einmal, wie zum Abschied, durch das Gras, reiße ein paar Halme heraus und zerdrücke sie zwischen den Fingernägeln.
„Ich mag diesen Geruch“, sage ich und erhebe mich langsam, „diesen Geruch von frischem, zwischen den Fingernägeln zerdrücktem Gras.“ Ich helfe dem Professor auf die Beine und dann pflücken wir noch einige Joints für den Weg, bevor wir hinüber zum Baum der siebentausend Stufen gehen.
„Ich habe dir gesagt, dass es länger dauert, wenn du zählst“, sagt der Professor und lenkt mich damit vom Zählen ab, so dass ich stehenbleiben muss.
„342“, sage ich und dann noch einmal „342“.
Dann steige ich drei Stufen nach oben, weil ich mir diese Zahl besser merken kann. Überall um uns herum ist Holz, wir sind im Innern des Baumes und folgen einer endlosen Wendeltreppe, die sich weiter und weiter nach oben bohrt.
„Schau mal, wie weit das nach oben geht“, sage ich, „gut, dass man nicht nach oben fallen kann.“
Es gibt keine Abzweigungen, keine Korridore, keine Türen, nur diese Treppe und diese ewige Drehbewegung, die sich in Stufen unterteilen lässt.
„345“ sage ich zum Professor. „Das kann man sich ganz einfach merken.“
„Ich verstehe ja, warum du das machst“, antwortet der Professor, „mir ist klar, dass du überprüfen willst, ob es wirklich 7000 Stufen sind, aber wenn du nicht zählst, könnten wir uns beim Gehen unterhalten. Letztendlich ist es für uns doch ohne Bedeutung, ob es wirklich 7000 Stufen sind.“
„Das stimmt“, sage ich, weil ich bereits selbst etwas ähnliches gedacht aber schon zu weit gezählt hatte, um es einfach aufzugeben,
„dann höre ich hier auf“, sage ich, „bei 345 Stufen.“
„Das ist nett von dir“, sagt der Professor und dann unterhalten wir uns einfach immer weiter, kommen von Hölzchen auf Stöckchen, vom Willen zum Weltgeist in kreisenden Bewegungen, bis wir auf einmal durch eine weitere Tür aus unserer Unterhaltung gerissen werden. Es ist unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen ist.
„I“ steht auf der Tür.
„Meinst du, dass dies die erste Hölle ist?“, frage ich den Professor.
„Es ist seltsam, dass sie hier römische Schriftzeichen verwenden“, antwortet dieser,
„aber es könnte auch sein, dass es nur für uns römische Schriftzeichen sind, was wiederum immer noch nicht die Frage beantworten würde, warum es denn dann für uns römische Schriftzeichen wären. Verstehst du, was ich meine?“
„Sollen wir?“, frage ich und habe die Hand schon auf dem Türgriff liegen, weil es irgendwie unbequem ist, so in dem Gang zu stehen, den wir so lange hinaufgestiegen sind und ich bin auch neugierig, wie es denn in der Hölle aussehen könnte.
„Warte noch“, sagt der Professor und dann, mit feierlicher Stimme:
„Ich habe dir doch die Geschichte mit dem Reh erzählt“, sagt er,
„ja“, antworte ich, „Sokrates, der Kleinere, ich finde den Namen noch immer sehr gelungen.“
„Ich habe mir noch eine ähnliche Geschichte ausgedacht“, sagt er, „die ich vielleicht sogar noch schöner finde.“
„Worum geht es denn in der Geschichte?“, frage ich zurück.
„Sokrates, der Kleinere, hatte nämlich einen guten Freund, mit dem er gemeinsam schon einige Abenteuer bestritten hatte.“
„Wie hieß denn der Freund?“, frage ich den Professor, der einen Moment nachdenkt.
„Das ist nicht überliefert“, sagt er schließlich, „man weiß nur, dass sie wirklich gute Freunde waren.“
„Ich finde es schade, dass er keinen eigenen Namen hat“, sage ich, „aber wie geht es weiter?“
„Eines Tages wurden die Beiden in ein Abenteuer verwickelt, das größer schien als alle bisherigen Abenteuer zuvor und da Sokrates, der Kleinere, ahnte, dass dieses Mal nicht nur ihr Mut sondern auch ihre Freundschaft auf die Probe gestellt werden könnte, schloss er mit seinem Freund einen Schwur: Was immer bei diesem Abenteuer passieren sollte, eines durften sie dabei nie vergessen und das war: Ihre Freundschaft.“
„Das ist ja lustig“, sage ich,
„du möchtest“, frage ich lachend zurück, „dass wir einen Freundschaftsschwur schließen?“
„So habe ich das nicht gesagt“, antwortet der Professor ausweichend,
„es ist ja nur eine Geschichte.“
„Es ist der Versuch einer Analogie“, wende ich ein und muss wieder lachen,
„da wir zwei ja diejenigen sind, welche die Welt retten müssen. Vielleicht könnten wir uns ja auch ein Freundschaftsbändchen flechten“, sage ich, pruste die letzten Worte geradezu hervor und es klingt viel gemeiner, als ich es gemeint habe.
„Vielleicht war es eine dumme Idee“, sagt der Professor und auf einmal tut es mir sehr leid.
„Es tut mir leid“, sage ich zum Professor, ich habe diese Schübe, in denen auf einmal alles so lustig ist, ich könnte weinen, so ist mir zum Lachen zumute.“
„Wir sollten gehen“, sagt der Professor und ich merke, dass er ernstlich verletzt ist.
„Nein“, sage ich, „ich gehe nicht, bevor wir nicht einen Freundschaftsschwur geleistet haben.“
„Meinst du das ernst?“, fragt der Professor und sieht mir dabei direkt in die Augen, was mich wieder zum Lachen bringt. Seine Pupillen sind so klein, dass er wie ein übergewichtiger Vampir aussieht. Er ist auch ganz rot im Gesicht.
„Ja“, sage ich lachend und zwinge mich zum Ernst.
„Ich meine das sehr ernst“, sage ich sehr ernst.
„Nun gut“, sagt der Professor: „Ich gelobe dir Freundschaft, egal was uns in diesen sieben Höllen erwarten wird.“
Er sagt dies sehr feierlich und nimmt dann einen tiefen Schluck aus der Mineralwasserflasche.
„Auch ich“, sage ich, „gelobe dir Freundschaft, egal, was uns in diesen sieben Höllen erwarten wird.“
Dann trinke auch ich einen Schluck aus der Mineralwasserflasche und bin erstaunt, wie gut doch Mineralwasser schmeckt und wie viele unterschiedliche Geschmäcker in dieser klaren Flüssigkeit verborgen sind. Außerdem perlt die Kohlensäure so lustig auf der Zunge.
Ich kann die Flasche nicht absetzen, bevor ich sie leergetrunken haben.
„Dann mal los“, sagt der Professor und öffnet die Tür zur ersten Hölle.