In Die dritte Entsagung (1947) von Garcia Márquez erfährt ein junger Mann nach achtzehn Jahren lebendigen Totseins seinen zweiten Tod. Er liegt in einem Sarg in seinem Zimmer in seinem Elternhaus. In diesem Sarg ist er erwachsen geworden, aber ganz hineingewachsen ist er nicht. Der Sarg ist ihm ein bisschen zu lang. Als die Mutter die Maße für den Sarg bestimmte, in dem ihr siebenjähriger Sohn Platz zum Wachsen haben soll, ging sie davon aus, dass er so groß würde wie sein Vater.
Aber die Beine des jungen Mannes sind kurz geblieben. Seit seinem ersten Tod liegt er, ein älter werdender Körper mit Bewusstsein, in diesem Sarg, umgeben von frischen Blumen und Kerzen. Der Körper führt ein Eigenleben auf das das Bewusstsein keinen Einfluss hat. Die Beine hören auf zu wachsen, der Bart sprießt. Die Mutter stuzt ihn, misst die Körperlänge, beugt sich über ihn und schnuppert: ob er noch lebe. Kurz vor Einsetzen der Handlung ist dem dem Mann aufgefallen, dass die Mutter eine Änderung seines Geruchs wahrgenommen haben muss. Jetzt riecht er es auch selbst. Er hat zu faulen begonnen. Er bekommt Angst vor dem dritten Tod: dem Begräbnis.
Die dritte Entsagung beginnt mit dem Satz: "Da war wieder dieser Lärm". Es ist ein Lärm im Kopf, ein schmerzhafter Lärm. Ein Migräneanfall des Bewusstseins. Im Wartebereich der der Station soundso der Charité ist es still. Alle paar Minuten öffnet sich eine von vier elektrischen Flügeltüren. Neben mir summt ein Getränkeautomat. Menschen in blauen und rosa Pflegetrachten schlurfen auf Plastikpantoffelsohlen heraus. Oben, im ersten Stock, wird einem Mittfünziger das Atemgerät abgestellt. Seine Stiefmutter, seine Jugendliebe, ein befreundetes Paar und ein Freund stehen um sein Bett. Die Schwester wohnt in Australien und ist nicht gekommen. Ich bin als Begleitung des Freundes dabei und nicht dabei. Die frühen Erzählungen Garcia Márquez sind meine Wartelektüre. Ich habe das Buch vor ein paar Tagen aus einer Zu-Verschenken-Kiste gefischt. Das Papier riecht nach altem Rauch, Márquez Geschichten sind wie üblich voll mit Blumenduft und jetzt auch mit Fäulnis. Der Mann aus der Geschichte bereitet sich auf seinen dritten Tod vor, während im Stockwerk über mir jemand stirbt, der seit vier Wochen nicht mehr ansprechbar ist, Lungenkollaps nach Lungenentzündung nach Rippenbrüchen nach Autounfall. Nach Minischlaganfall? Oder Sekundenschlaf? Er erinnert sich nicht. An den Überschlag hatte er sich erinnert, als er nach dem Unfall vor dem Lungenkollaps im Krankenhaus aufgewacht war.
Ich wäre gerne dabei. Aus Neugier. Und deshalb bin ich nicht dabei. Aus Pietät. Dass ich, während ein faktischer Mann, der seit ein paar Wochen nicht bei Bewusstsein ist, aber nicht hirntot, stirbt, eine Geschichte lese, in dem ein Bewusstsein eines fiktiven Mannes mit dem Sterben seines Körpers ringt, ist Zufall. Als ich die Geschichte fertiggelesen habe, zögere ich die nächste anzufangen. In einem Literaturforum lese ich die Aufforderung, man möge Geld spenden, um selbiges am Leben zu halten. Auch das ist ein Zufall.