Beliebte küchenspsychologischen Fehldiagnosen: heute Heuchelei
Betrachtung zum Thema Allzu Menschliches
von dubdidu
Der Kardinalfehler, der regelmäßig bei der beliebten Diagnose Heuchelei begangen wird, liegt in der Prämisse. Heucheln ist ein bewusster Akt der Täuschung. Ganz unabhängig, warum ein beliebiger Mensch in einer beliebigen Situation ein beliebiges Gefühl heuchelt und auch unabhängig davon, ob er ein begabter, ein mittelmäßiger oder ein grottenschlechter Heuchler ist - wenn er es tut, weiß er, dass er es tut. Er hat zumindest ein ungefähres Bewusstsein dessen, was er wirklich fühlt und eine Vorstellung, welches Gefühl er nach außen hin zeigen möchte. Ich habe zwei sehr begabte Heuchler in meiner Familie, mich allerdings können sie nicht reinlegen, dafür kenne ich sie zu gut. Ihre Stimme mag kreideweiß klingen, ich höre das Krampfen im Bauch und sehe die versteiften Muskeln in ihrem lächelnden Gesicht. Oft schon war ich Zeuge, wenn sie andere anheuchelten, und kann es denen, die darauf reinfielen, nicht verdenken.
Die Fehldiagnose Heuchelei wird aber besonders häufig nicht etwa bekannten Einzelpersonen, sondern Kollektiven angedichtet. Ja stimmt, einstimmige Kollektivgefühle wirken ähnlich wie Heuchelei nicht authentisch. Das liegt aber nicht am Charakter oder der moralischen Verderbtheit der einzelnen Menschen, die in einer Gruppe ein Kollektivgefühl ausdrücken. Schon gar nicht liegt es in der Natur dieser Menschen oder Gruppen begründet. Es liegt in der Natur des Kollektivgefühls. Kollektivgefühle können nicht authentisch sein, egal ob es sich um Kollektivtrauer, Kollektivstolz, Kollektivsittlichkeit oder Kollektiverleuchtung handelt. Der Affekt wirkt aufgesetzt, gleichermaßen zu flach und zu laut, weil es sich um eine Aneignung handelt.
Die am Kollektivgefühl teilhabenden Menschen schnappen eine Stimmung aus dem Außen auf wie einen Mund voll Luft, schwingen in ihr, lassen sich von ihr mitreißen. Daher auch der schlagerhafte Gleichklang, das Phrasenhafte. Das Individualempfinden hockt in den Tiefen der Eingeweide, das Kollektivgefühl in der Kehle. Das erstere herauszuschälen und zum Ausdruck zu bringen, ist mitunter für Erwachsene mühsam, verinnerlichte Konventionen stehen im Wege. Die Aneignung von Kollektivgefühlen ist so leicht wie ein Rausch. Und: sie geschieht unbewusst, ganz im Unterschied zur Heuchelei. Diejenigen, die sich gerade mit Kollektivgefühl anreichern, bemerken den Mangel an Authenzität genausowenig wie der Betrunkene nicht bemerkt, dass er nicht lustig ist. Höchstens später, wenn der Rausch vorbei ist, bleibt eine vage Leere zurück.
Das Bedürfnis nach Kollektivgefühl und Rausch ist nicht in jedem Menschen gleichermaßen ausgeprägt vorhanden. Nature oder Nurture? Ungewiss. Vermutlich ein kleiner Teil Nature und ein großer Teil Nurture. Soziale Dynamiken sind machtvoll und belohnen die konventionelle Teilhabe an Kollektivgefühlen effizient und effektiv (man denke nur an Fußball), aber Menschen tragen die notwendigen Anlagen in sich, der Unterwerfung zu trotzen, auch wenn es mehr Aufwand und keinen bis wenig Lohn von außen dafür gibt oder gar Schelte.
Wenn Nationaltrauernde Teddybären und Kerzen an Straßenkreuzungen aufstellen und die Nationalstolzen Fahnen schwingen, ist mir dieses Gebaren fremd. Absurd wird es, wenn Nationalstolze Nationaltrauernden Heuchelei vorwerfen und dabei in Kollektivsittlichkeit schwingen. Geheuchelt ist diese angeeignete Kollektivmpörung nicht, die küchenpsychologische Fehldiagnose beruht allerdings auf einem Kategorienfehler.
Im Unterschied zum Kollektivgefühl kann Heuchelei in manchen Situationen geboten sein. Ich habe z.B. schon Vorgesetzen gegenüber eine Anerkennung ihrer Autorität geheuchelt, weil sie formal gefordert war und ich nicht unangenehm auffallen wollte. Nicht jeder Vorgesetzte verkraftet es, wenn seine Mitarbeitenden ihm gegenüber aufgrund ihrer Stellung nicht mehr Respekt empfinden als gegenüber einem Bettler in der U-Bahn. Aber meinem authentischen Individualempfinden gemäß ist es mir einfach nicht möglich, mehr Respekt für den einen als für den anderen aufzubringen. Ob es mir geglückt ist? So naja.