Aufkläricht Zweipunktnull: Steven Pinker

Rezension zum Thema Weltanschauung

von  Jack

Dieser Text ist Teil der Serie  Wer öfter liest, ist schneller tot

Gewalt


März 2018: Wintereinbruch in Deutschland. Im sich 8 Stunden verspätenden ICE nach Eisenach las ich die ersten 200 Seiten von Steven Pinkers "Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit". Gewalt! Jedes dritte Mädchen! Rape Culture! Black Lives Matter! Noch ein paar Jahre, und Manhattan wird abgeriegelt, um Platz für 3 Millionen Schwerverbrecher zu schaffen, weil die Knäster overcrowded sind und die Kriminalität steigt und steigt und steigt. Sollte ein Flugzeug mit wichtigen Leuten, vielleicht sogar dem Präsidenten an Bord, über der Insel abstürzen, haben wir hoffentlich diesen Badass Snake Plissken, der ihn da rausholt.

Alles anders gekommen. Die Gewaltraten sinken weltweit. Das 20. Jahrhundert war selbst mit den beiden mörderischsten Kriegen der Weltgeschichte bis dahin das friedlichste, wenn man nüchtern ausrechnet, wie viele Menschen an Gewalt oder Folgen von Gewalt gestorben sind. Und das 21. Jahrhundert wird noch einmal eine Größenordnung friedlicher; die Gewaltraten sinken nicht bloß prozentual, sondern auf logarithmischen Skalen.

Der Frage nach dem Warum geht der amerikanisch-kanadische Evolutionspsychologe in seinem über 1000-seitigen Werk akribisch nach. Und er zeigt, warum wir die Welt nicht so sehen, wie sie wirklich ist, sondern immer weniger Gewalt als immer mehr empfinden. Wer kennt den Mann, der 30 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat? Jeder, der einen Fernseher hat. Und wer kennt den Mann, der eine Milliarde Menschen vor dem Hungertod gerettet hat?





Aufklärung jetzt


Das Handbuch des fortschrittsgläubigen Optimisten. Kant stellte Ende des 18. Jahrhunderts fest, dass die Menschheit nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, aber in einem Zeitalter der Aufklärung lebte. Pinker beschreibt den Weg, der seitdem gegangen wurde.

Alle Indikatoren für Wohlstand, Gesundheit, Frieden und Freiheit zeigen weltweit ein eindeutiges Bild: die Zeiten werden besser und besser. Und Pinker erwartet eine weitere Verbesserung: noch mehr Wohlstand, noch weniger Gewalt, noch bessere Technologie. Auch an weiteren sozialen Fortschritt glaubt Pinker. Das ist alles schön und gut, aber sein Optimismus scheint einen blinden Fleck zu haben, und dieser verdeckt, welch ein Zufall, die Schattenseiten des Fortschritts. 

Wir leben, als hätten wir fünf Erden. Die Umweltverschmutzung ist katastrophal. Ressourcen, die nur einmal verbraucht werden können, werden auf immer umweltschädlichere Weise geschürft und sind für die Nachwelt verloren. Zur Verharmlosung der Gefahren kommt die ideologische Borniertheit: Hillary gut, Donald böse. Hauptsache linksliberal, dann ist auch nicht schlimm, wenn d*ie US-Präsident*in einen dritten Weltkrieg auslöst. Natürlich werden die Russen und Chinesen schuld sein, weil das ja autokratische Regimes sind.


Als begeisterter Technokrat bin ich mit den meisten Analysen Pinkers einverstanden, als Philosoph (mit Pessimismus als Berufskrankheit) teile ich seine Schlussfolgerungen nicht. Dass es seit 250 Jahren abgesehen von Katastrophen und Zivilisationsbrüchen immer nur aufwärts ging, ist ein Trend, den man nicht in die Ewigkeit extrapolieren kann. Vielmehr ist die ganze Menschheit, wie früher jeweils einzelne Zivilisationen, heute am Ende einer historisch durchaus langen Aufwärtsbewegung angekommen. Das macht die heutige Situation so gefährlich: der Untergang wird nicht mehr lokal begrenzt, er wird auf globaler Ebene stattfinden.


Manche fabulieren von einer neuen Qualität der menschlichen Entwicklung, heißt, es wird zwar nicht mehr quantitativ (alle sind satt, wir können nur noch fett werden; du kannst keine 10 Autos gleichzeitig fahren usw.), dafür aber qualitativ weiter aufwärts gehen. Den Vorgeschmack haben wir mit Facebook, Instagram und Metaverse. Eskapismus, der zu Suchtverhalten, Depression und psychischen Störungen führt; die wahre Pandemie der letzten Jahre ist die der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Relativiert um diese zwei düsteren pamphletartigen Absätze, ist Pinkers Buch von der Aufklärung als humanistischer Mutmacher durchaus zu empfehlen.


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