Überzeugungen im Kaffeehaus

Erzählung zum Thema Weltanschauung

von  Regina

Sie trafen sich in dem Jugendstilcafé, das mit seiner nostalgischen Atmosphäre zum Verweilen einlud und den Unterhaltungen einen Hauch von derjenigen Illusion vermittelte, für das Leben besonders relevant zu sein.

„Nach dem Tod ist alles aus“, konstatierte Heinz-Georg überzeugt. „Aber das ist schon rein stofflich gesehen falsch“, entgegnete Karl-Adam, „ genau besehen, wäre der Mensch erst dann von der Erde verschwunden, wenn nicht nur Fleisch und Haut, sondern auch alle seine Gebeine verwest sind, und das dauert. Aber eine Erziehung im Glauben an Himmel oder Hölle bringt einen zwar furchtsamen, aber edleren Charakter hervor als der nihilistische Materialismus.“ Johanna-Elisabeth zögerte, sich zu artikulieren. Ablehnung ihrer Gedanken an Reinkarnation und Karma waren ihr nur allzu vertraut. Doch jetzt entschloss sie sich, dennoch zu sprechen. „Nichts erzieht mehr zum humanen Handeln als der Gedanke an Reinkarnation. Damit rechnen zu müssen, dass auf jede Handlung ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit folgen würde, müsste doch die Verbrechensrate enorm verringern, müsste eine dem Gegenüber verantwortliche Haltung hervorbringen, ist es nicht so?“ fragte sie in den Raum hinein. „Dann schau dich mal in Indien um, was für unsittliche Ereignisse sich da im Alltag abspielen“, entgegnete Heinz-Georg. „Die indische Kultur blühte vor Jahrtausenden und die von Armut geplagten Inder können sich nicht einfach ein wohlfeiles Buch über ihre uralte Philosophie kaufen wie wir hier, viele haben von der traditionellen Lehre keine Ahnung“, relativierte Johanna-Elisabeth den Hinweis auf soziale Unzulänglichkeiten dieser Kultur, der der Erwähnung der von ihr favorisierten Weltanschauung stets folgte wie das Amen in der Kirche. „Ich bin da konservativ“, ließ sich Karl-Adam hören, „bevor ich mich auf das Experiment einer Konvertierung einlasse, bleibe ich lieber bei meiner eigenen Tradition, wo ich mich auskenne, wenn ich auch zugeben muss, dass die katholische Kirche mit ihrer Machtausübung vom moralischen Standpunkt aus gesehen, ihre religiöse Aufgabe verfehlt und eh und je verfehlt hat. Auch die Zölibatsforderung an Priester, die dieser nicht entsprechen können, erscheint unrealistisch." „Der Katholizismus ist nicht nur in moralischer, sondern auch in wissenschaftlicher Hinsicht unhaltbar, genauso wie die östlichen Lehrgebäude“, warf Heinz-Georg ein. „Das kommt darauf an, was du als Wissenschaft anerkennst“, meinte Johanna-Elisabeth. Die Diskussion zog sich über mehrere Stunden hin, denn die betagten Cafébesucher verfügten über viel Zeit. Aber eine Synthese zwischen den drei unterschiedlichen Weltanschauungen wurde nicht gefunden. Wie schlüssig auch die Argumente der Gegenseite vorgebracht sein mochten, jede Person blieb bei ihrer eigenen Überzeugung. Eine Lebensauffassung, die man sich meist in jungen Jahren zugelegt hat, hält sich trotz kontroverser Kommunikation hartnäckig.



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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (23.01.23, 10:48)
Hätte  so auch im Wirtshaus stattfinden können.
Vor dem Praktizieren steht natürlich immer ein Reflektieren. In meiner Tradition gibt es dazu die vier Betrachtungen, die den Geist auf das Wesentliche lenken sollen: 
"- Der erste Punkt der Betrachtung: Die Kostbarkeit der menschlichen Geburt, die schwer zu erlangen und leicht zu zerstören ist. Viele günstige Faktoren und Verdienste müssen zusammenkommen, bis man Mensch wird, wozu nicht bloß die geeigneten Eltern am bestimmten Ort in der entsprechenden Zeit gehören, sondern vor allem das Mitgefühl mit anderen Wesen ...

- Der zweite Punkt der Betrachtung: Tod und Vergänglichkeit. Obwohl diese menschliche Geburt also viele Möglichkeiten des Wachstums gestattet, ist die zur Verfügung stehende Zeit knapp bemessen, so daß wir nichts auf morgen verschieben können. Wenn wir sterben, was jeden Moment geschehen kann, verwandeln wir uns in einen Leichnam und dann ist alles zu spät.

- Der dritte Punkt der Betrachtung: Karma - Ursache und Wirkung. Alles Verursachte hat Folgen, auch über den Tod hinaus, ja die Taten bestimmen sogar, als was wir wiedergeboren werden. Denn was man aussendet, das kehrt unweigerlich zuletzt wieder zum Verursacher zurück. Wir kennen das aus "Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück."

- Der vierte Punkt der Betrachtung: Leiden. Um das durch Unwissenheit, Gier und Haß bedingte, stetig wiederkehrende Leiden zu beenden, praktizieren wir das, was bewußte Klarheit, Mitgefühl und Weisheit entstehen läßt.
Je klarer diese vier Punkte werden, umso unerschütterlicher wird unsere Motivation.
  "
Entnommen: https://keinverlag.de/373439.text

 Regina meinte dazu am 23.01.23 um 11:08:
Sehr hübsch, aber die Katholiken, die Protestanten, die Agnostiker, und vor allem die Atheisten kannst du damit nicht überzeugen, oder?

 LotharAtzert antwortete darauf am 23.01.23 um 11:26:
Nein, die nicht! :alien:

 EkkehartMittelberg (23.01.23, 13:39)
Ich weiß gar nicht mehr, was ich bin, weil mich der Text von Lothar überzeugt hat.  :)
Gleichwohl erweist sich Ginas Erzählung bei quantitativer Betrachtung als richtig.

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 23.01.23 um 15:34:
Noch 'n Cappuccino, Ekki?

 Regina äußerte darauf am 23.01.23 um 17:06:
Aber bitte mit Sahne.

 AZU20 (23.01.23, 13:46)
Dem letzten Satz kann ich nur zustimmen. LG

 Regina ergänzte dazu am 23.01.23 um 17:07:
Ja, so ist es.

 Augustus (23.01.23, 13:56)
man möchte meinen, wenn man es unfreundlich beurteilen würde, es sprechen bei dem ausgewählten Thema, Blinde über Farben, die sie nicht sehen. Umso höherer ist der fantasiegehalt der Gesprächspartner zu schätzen, wodurch das Thema getragen wird, gleichwohl die Wahrheit niemand kennen kann. Sofern keiner für sich die Wahrheit beansprucht und mit Feuer und Schwert bereit ist diese zu verteidigen, so haben alle sicherlich einen Gewinn aus dem Gespräch. 

Salve

 Regina meinte dazu am 23.01.23 um 17:08:
Yes, sir.
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