Sörsignal
Essay zum Thema Gesellschaft/ Soziales
von J.B.W
Sörsignal
von J. B. Weber, 2025
Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, an dem ich gemeinsam mit dem einzigen Menschen, den ich damals als Freund bezeichnen konnte, einen Text zur Veröffentlichung in der Schülerzeitung einreichte. Der betreuende Lehrer jedoch wies ihn mit der Begründung zurück, die Qualität des Beitrags lasse ihn an unserer Urheberschaft zweifeln. Er bat um Verständnis.
Mein Freund war niedergeschlagen, ich hingegen empfand dies zunächst als eine Art indirektes Kompliment. Doch schon im nächsten Moment vermutete ich den wahren Grund für seine Zweifel weniger im Stil als im Inhalt: Der Text war düster, leicht morbide und in Teilen drastisch formuliert – womöglich zu drastisch für den schulischen Rahmen.
Diese Szene hat mich seither nie ganz losgelassen. Immer wieder tauchte sie auf in meinem Gedächtnis – vor allem in späteren Jahren, als ich begann, mich bewusster mit meiner eigenen Entwicklung auseinanderzusetzen. Und ähnliche Erfahrungen wiederholten sich. Ich erkannte zunehmend, dass es sich dabei nicht bloß um Einzelfälle handelte, sondern um Symptome eines tiefer liegenden, strukturellen Problems.
Die Menschheit, so schien es mir im Rückblick, stand ihrem eigenen Fortschritt nicht selten selbst im Weg – oder, subtiler noch, sie zerstörte Brücken zu besseren Möglichkeiten schon im Ansatz: vorsätzlich, wissentlich, beinahe rituell.
In jener Zeit begann ich, mein Innerstes nach außen zu tragen. Nicht in theatralischen Ausbrüchen oder aufdringlichen Offenbarungen, sondern in sorgfältig gesetzten Fragmenten. Gedankenmodule – präzise formuliert, frei von biografischer Sentimentalität. Sie glichen Testsignalen in einem System, das nie um ihre Aussendung gebeten hatte. Ich brachte sie ans Licht, trug sie aus mir heraus – und sah, wie sie auf Widerstand stießen. Je klarer sie wurden, desto diffuser gerieten die Reaktionen.
Zunächst war da nur Irritation. Diese kaum wahrnehmbare Regung im Gesicht meines Gegenübers, wenn ein Gedanke meine Lippen verließ, der zu präzise, zu kantig, zu „anders“ war. Ein kurzes Innehalten, ein Blinzeln – als hätte ich ein Störsignal ausgesandt. Noch kein Alarm, aber ein Bruch mit dem Erwartbaren. Mit dem Erlaubten. Mit der Zeit wuchs daraus Misstrauen.
Ich lernte früh: Exzellenz wird ebenso wenig gefeiert wie Abartigkeit, wenn sie nicht dekorativ oder unterhaltsam daherkommt. Genialität verlangt, ebenso wie Wahnsinn, eine Entschuldigung – sofern sie sich nicht dem Spektakel oder der Selbstverkleinerung hingibt. Und das Außergewöhnliche, wenn es sich nicht in einen gesellschaftlich verwertbaren Kontext einfügt, wird rasch zum Fehler erklärt – ein Bug im System der Normalität.
Ich hatte es gewagt, mich zu fokussieren. Nicht bloß zu denken, sondern durchdringen zu wollen, was mich interessiert – mit voller Kraft. Und ich erzielte teilweise Ergebnisse, die selbst mir unwahrscheinlich erschienen.
Zunächst misstraute ich ihnen – ein Reflex, genährt von einer Umgebung, die stets betont hatte, man solle sich nicht so wichtig nehmen. Doch allmählich begriff ich: Es war nicht meine Glaubwürdigkeit, die andere störte. Es war ihre eigene Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass jemand wirklich tiefer sehen konnte als sie.
Meine Beschäftigung mit den Künsten der Täuschung – Zauberei, Mentalismus, Hypnose, Trickbetrug, Illusion – war mein Versuch, dieses paradoxe Empfinden zu unterwandern. Doch selbst sie konnte das zugrunde liegende Problem nicht lösen: jenes tief verwurzelte Unbehagen eines Systems gegenüber allem, was sich nicht einordnen, nicht kontrollieren, nicht vorhersagen lässt.
Und so wurde ich zur Ausnahme – nicht im Sinne bewunderter Besonderheit, sondern im Sinne von Ausgrenzung.
„Ich bin ein Sörsignal.“
So schrieb ich es eines Tages nach einem Auftritt auf einen Zettel. „Sörsignal“ – absichtlich falsch geschrieben. Ein Echo jener Stimmen, die nie wirklich hören wollten, was ich sagte – geschweige denn, was ich meinte. Sie hörten lediglich, dass ich sprach – und das genügte ihnen, um das Gespräch zu beenden, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Ich sei zu viel. Zu direkt. Zu technisch. Zu dramatisch. Zu ernst. Zu analytisch. Zu künstlich. Zu künstlerisch. Zu pathetisch. Zu vieles von allem – aber nie einfach nur genug. Nie normal genug.
Es ist schwer, einem System zu genügen, dessen Toleranzbereich weder definiert noch offen kommuniziert wird. Und noch schwerer, wenn man diesen Bereich nicht punktuell, sondern systematisch überschreitet. Ich war kein Ausreißer – ich war die Abweichung.
Die subtilste Grausamkeit dieses Systems liegt in der Illusion seiner Offenheit. Es gibt sich tolerant – solange die Abweichung dekorativ bleibt. Bunt genug, um als Vielfalt durchzugehen, harmlos genug, um nicht zu stören. Toleranz bedeutet allzu oft: Wir ertragen dich – solange du dich selbst zensierst.
Also schwieg ich. Nicht aus Angst, sondern aus Strategie. Ich selektierte, segmentierte, verzichtete. Und zog Gespräche mit jenen inneren Instanzen vor, die weder normierte Sprache noch sozialen Konsens verlangten.
Heute weiß ich: Systeme – ob gesellschaftlich, psychologisch oder sozial – verfügen über eingebaute Sensoren. Sie schlagen Alarm, wenn bestimmte Grenzen überschritten werden. Wer intensiver fühlt, tiefer denkt, anders spricht, wird früher oder später zum Auslöser.
Ich dachte einmal:
„Ich bin mir selbst meine eigene Randgruppe.“
Damals klang das wie ein Befund.
Heute ist es ein Manifest.
Denn die Alternative zur Selbstzensur ist nicht Rebellion – sondern Integrität.
Die Entscheidung, bei sich zu bleiben, erwächst nicht aus Trotz, sondern aus Notwendigkeit.
Ich kann nicht anders sein, ohne mich selbst zu verlieren. Und ich kann mich nicht verlieren, nur um anderen angenehmer zu erscheinen.
Ich habe lange geglaubt, meine Andersartigkeit sei ein Defekt. Ein Irrtum.
Doch ich beginne zu verstehen:
Vielleicht sind Menschen wie ich keine Fehler – sondern ein Test.
Ein Test der Fehlertoleranz.
Ein Prüfstein des Systems.
Ein Maßstab dafür, wie viel Echtheit eine Gesellschaft zu ertragen bereit ist, bevor sie sie abschaltet.
Ich habe gelernt:
Die gefährlichsten Fehler sind nicht die lauten – sondern die strukturellen.
Die, die niemand meldet.
Weil alle gelernt haben, dass es nichts bringt.
Ich melde mich trotzdem.
Mit diesem Text.
Mit jedem Wort, das außerhalb eurer Standards liegt.
Nicht, um zu provozieren – sondern um zu prüfen, ob euer System noch atmet.
Denn unter den Sonderlingen und Überfühlenden, den Vieldenkenden und Sprachverlorenen, den Verstörten und Verstörenden –
da finden sich womöglich jene,
deren Andersartigkeit keine Störung ist, sondern eine Ressource.
Ein anderes Maß.
Eine andere Frequenz.
Eine andere Art, die Welt zu tragen.