Die bitteren Jahre nach der Flucht

Erzählung zum Thema Schicksal

von  Citronella

 

Die Bahnfahrt von Stettin nach Hamburg und kurz darüber hinaus dauerte gut drei Tage, immer wieder unterbrochen von stundenlangem Halt auf freier Strecke. Die heftigen Luftangriffe auf Berlin zwangen häufig zu Umleitungsstrecken. Man schrieb März 1945.

Die Evakuierungsbescheide für die Zivilbevölkerung waren Anfang März gekommen. Selbst in diesen Tagen arbeiteten die Behörden und Unternehmen penibel genau:

Margot (18) erhielt am 10.03.45 von ihrer Arbeitsstelle als verpflichtete Werkstattschreiberin die Bescheinigung „Margot X wird zwecks Umquartierung vom 12.03.45 auf unbegrenzte Zeit beurlaubt“.

Auch für Emmy (45) gab es eine ähnliche Bescheinigung von den Stadtwerken, bei denen sie seit Juli 1943 zur „aushilfsweisen Beschäftigung“ eingesetzt worden war: „ … Im Zuge der Evakuierungsmaßnahmen verlässt sie jetzt die Stadt Stettin und wird aus diesem Grunde entlassen.“

Vom Familienvater hatte man seit einer Nachricht aus Russland vor vielen Monaten nichts mehr gehört. Die Ungewissheit, ob man noch jemals wieder zusammenfinden würde, nagte zusätzlich an den beiden.

Nach der Ankunft in einer norddeutschen Kleinstadt wurden sie erst einmal zwei Tage in einer Turnhalle untergebracht, bevor die Verteilung auf die umliegenden Dörfer erfolgte. Mutter und Tochter waren mit 13 Gepäckstücken gereist, wie sie später immer wieder gerne zum Besten gaben. Wahrscheinlich hatten auch Andere ähnlich viel mitgenommen, denn der Bus, mit dem es über Land ging, war vollständig überladen. Die Gepäckreling auf dem Dach des Busses quoll über, was dazu führte, dass sich unterwegs einmal etliche Gepäckstücke selbständig machten und in den Graben neben der Straße kullerten.

Die Unterkunft der zwei Frauen befand sich im winzigen Nebengebäude eines kleinen bäuerlichen Anwesens und sei ehemals ein Hühnerstall gewesen, erzählte Emmy gerne. Die Wirtsfamilie, die neben dem Obsthof  noch ein kleines Küstenschiff ihr Eigen nannte, erwies sich als überaus hilfsbereit. Man tat, was man konnte, obwohl man selbst ziemlich ärmlich lebte, und freundete sich sogar an. Das jüngste Kind der Familie, ein Nachzügler von damals etwa 4 -5 Jahren, fand großen Gefallen an Margot. Sie brachte aus ihrem Pflichtjahr bei einer kinderreichen Familie immerhin schon ein wenig Erfahrung in der Kinderbetreuung mit.

Der Kontrast zwischen der großstädtischen Wohnung (schon mit Telefon! wie Emmy gerne stolz betonte) und dem „Hühnerstall“ hätte größer nicht sein können. Die Städterinnen hatten sich an allerlei zu gewöhnen: Dass hier auf dem Hof geschlachtet wurde, dass zum Entsetzen von Margot einmal ein Huhn ohne Kopf ein paar Meter weiterlief, dass man zum Einkauf der wenigen Dinge, die es überhaupt gab, etwa 6 km zu Fuß laufen musste, und vieles Andere mehr. Aber das Wichtigste war: Man hatte überlebt! Und es war ihnen bewusst, dass es ihnen auf ihrer Flucht sehr viel besser ergangen war als den vielen Ostpreußenflüchtlingen, die sich im harten Winter auf einem Treck auf den Weg gemacht hatten.

Viele Flüchtlinge mögen in den ersten Monaten noch davon ausgegangen sein, die Umsiedlung sei nur vorübergehend. In Margots Poesiealbum von 1945/46 nannten mehrere Bekannte ihre Heimatstadt mit dem Zusatz „zur Zeit … dorf“. Dass die bäuerliche Bevölkerung nicht eben begeistert über die Zuzügler war, tat sein Übriges. Nicht alle Flüchtlinge hatten das Glück, herzlich aufgenommen zu werden. Einmal wurden Margot und Emmy bei dem Versuch, ein paar Kirschen zu pflücken, die von einem Baum über den Graben hingen, böse beschimpft. Diebstahl blieb hier Diebstahl, auch in Zeiten der Not.

Noch vor dem Winter 1945/46 zogen die beiden Frauen um in ein Nachbardorf. Ein kleiner Krämer, der die Hälfte seines Ladens schon aufgegeben hatte, stellte einen Teil des ehemaligen Verkaufsraumes zur Verfügung. Der Boden bestand aus blankem Estrich, die große Schaufensterscheibe kühlte den Raum zusätzlich aus. Ein kleiner Kochherd spendete Wärme, und manchmal in den folgenden kalten Wintern saßen Mutter und Tochter zum Aufwärmen auf der noch warmen Herdplatte. Speziell der Winter 1946/47 soll einer der kältesten des 20. Jahrhunderts, speziell in Norddeutschland, gewesen sein.

Zu essen gab es sehr oft Steckrüben, in Pommern auch Wrucken genannt. Dass es dazu kaum Speck oder anderes Fleisch gab, kann angenommen werden. Um ein wenig Geld zu verdienen, strickten die Frauen für ein Strickwarengeschäft im nächstgrößeren Ort. Beide waren in Handarbeiten sehr talentiert, und Emmy führte ab und zu Schneiderarbeiten durch. Bei den Großbauern blieb sie auf viele Jahre eine gefragte Kraft.

Doch das Schicksal hatte noch eine weitere grausame Variante parat: Der Familienvater, der zunächst bei Kriegsende nach Stettin zurückgekehrt war und nun seit Monaten verzweifelt seine beiden Frauen über den Suchdienst ausfindig zu machen versuchte, hatte endlich eine Auskunft bekommen. Im Februar 1946 stieß er zu seinen Frauen und erkannte sofort, dass es in diesem ländlichen Bereich niemals Arbeit für ihn geben würde. Ein Kriegskamerad aus dem Westen schrieb ihm, dass in seinem Heimatort dringend Arbeitskräfte gebraucht würden, und so machte sich der Vater zu Pfingsten 1946 auf zu einem Besuch. Er kam nie zurück. Bei einem Ausflug wurde die Gruppe der Spaziergänger, also die Familie des Kameraden nebst Nachbarn, von marodierenden ehemaligen Kriegsgefangenen überfallen und ausgeraubt. Mit einem Bauchschuss und aufgrund der langen Zeit, bis ihm in einem abgelegenen Waldgebiet Hilfe zuteilwurde, überlebte er den Tag nicht. Emmy bekam am Tag nach Pfingsten ein Telegramm vom Bürgermeister des kleinen Ortes der Tragödie: „Mann tot, Kommen sofort erwünscht.“ Margot und Emmy setzten sich wieder in einen überfüllten Zug und fuhren zur Beerdigung. Noch einmal war die Zukunft dunkler geworden. Mutter und Tochter waren nun endgültig auf sich allein gestellt.

Die neue Wirtsfamilie, auch diese sehr herzlich und hilfsbereit, hatte drei Töchter, alle etwa im Alter von Margot. Sie wurden Freundinnen, und zusammen zog es sie, sofern sich die Gelegenheit bot, ins Fährhaus zum Tanzen. Flüchtlingsmädchen standen bei den einheimischen Großbauern allerdings nicht so hoch im Kurs, wie Margot bald feststellen musste. Ob sie allerdings eine Bäuerin hätte werden wollen, kann bezweifelt werden. Aber ein Ernährer wäre langfristig wünschenswert gewesen.

Und so nahm das weitere Schicksal seinen Lauf.



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (06.09.25, 06:50)
Du berichtest eine historische Fluchtgeschichte, lokal begrenzt, nicht über Kontinente hinweg ins gelobte Land.

 Citronella meinte dazu am 06.09.25 um 10:49:
Geschichten über Ostflüchtlinge sind ja auch ziemlich aus der Mode gekommen.

 TassoTuwas (06.09.25, 08:20)
So oder ähnlich millionenfach passiert. 
Wer erzählt sie noch, wenn er hört, "Opa, erzähl mir nichts von alten Zeiten, ich lebe heute!
LG TT

 Citronella antwortete darauf am 06.09.25 um 10:33:
Wenn die Menschen wenigstens daraus gelernt hätten. Aber die letzten Omas und Opas, die solche Geschichten noch von Überlebenden erzählt bekamen, sterben jetzt ja sowieso bald dahin ...

LG Citronella

 dubdidu (07.09.25, 02:51)
Ich freue mich (ehrlich!) darüber, dass du in diesem Text eher nüchtern beschreibst, statt zu kommentieren, und auf Heimatpathos verzichtest. Er ähnelt beinahe einem Bericht, das ist seine Stärke.
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