Vermisste Kinder: Der Fall Bobby Boyes

Rezension

von  dubdidu

Die meisten ungelösten Vermisstenfälle von Kindern, die ich im Podcast The Vanished höre, eignen sich nicht als Vorlage für einen Kriminalroman oder -film. Entweder ist das Verschwinden so extrem rätselhaft, dass jegliche Spekulation aufgebläht und anhaltspunktlos wie ein halbvoller Ballon in der Leere hängt, manchmal so rätselhaft, dass einem gar keine Spekulation einfällt, oder: der oder die Täter (die Eltern o.ä.) sind fast schon zu wahrscheinlich und lediglich deshalb nicht überführt, weil die Beweise fehlen.

 

Eine Ausnahme ist der Fall Bobby Boyes; der hat wirklich alle Zutaten für einen zeitgenössischen Kriminalroman inklusive: soziale Milieustudie, Zeitgeist der späten 60er in den USA, Familiengeheimnis, wilde Natur, einen abgründigen Verdächtigen und die Möglichkeit einer moralischen Widersprüchlichkeit in der Auflösung; Mir fällt auf, dass das Bildmaterial in diesem Fall besonders gut ist. Natürlich sieht man auch in allen anderen Folgen Bilder der Landschaften, Straßen oder Häuser vor sich, wenn man die Fallbeschreibungen liest oder hört, aber in denen blitzen die Bilder wie Fragmente auf, die kleine Verschwindensgeschichte bettet sich nicht so geschmeidig in die größere Lebens- bzw. Familiengeschichte wie bei den Boyes.

 

Gleich eingangs wird man mit einem Bild konfrontiert, das direkt aus einem Märchenbuch zu stammen scheint. Bobby hatte ein Reh namens Pete zum Haustier und führte es an einer Eisenkette herum. Den einen mag das romantisch vorkommen, den anderen pervers, dieses Spannungsfeld gibt ein erstklassiges Bild ab. Passend dazu verschwindet Bobby am 26. Dezember aus einer ländlichen Gegend in Maryland. Bobby und seine Brüder, einer älter, einer jünger, und Pete verlassen am Vormittag dieses Tages ihr Zuhause um ein paar Nachbarsjungen zu besuchen. In meiner Vorstellung liegen die Grundstücke in der beschriebenen Gegend recht weit auseinander, kleine Inseln am Waldrand. Die Boyes-Brüder brauchen mindestens 15 Minuten dorthin. Es liegt Schnee. Die Eisenkette klimpert. Die Kinder spielen mit ihren Weihnachtsgeschenken, dann brechen die Brüder auf, um Mittag zu essen; Bobby möchte lieber noch draußen mit Pete spielen. Darüber wundert man sich in der Familie nicht großartig. Die Polizei wird erst gerufen, als Bobby auch zum Abendessen nicht erscheint. Es gibt eine große Suchaktion mit Hubschraubern. Und keine Spur.

 

Die Familie besitzt ein eigenes Grundstück mit einem Haus, wohnt während der Wintermonate allerdings in einem Wohnmobil auf dem Grundstück; die Heizkosten für das Haus sind zu hoch. Außer den drei Brüdern gehören zur Familie noch zwei jüngere Schwestern, die eine ist beim Verschwinden Bobbys vier Jahre alt und diejenige, die das Familiengeheimnis lösen möchte. Bobby war ihr Lieblingsbruder. Die andere ist noch ein Baby und zum Zeitpunkt der Aufzeichnung des Podcasts bereits tot. Die Mutter ist schwanger. Beide Eltern trinken und streiten sich viel. Sie geraten in Verdacht, als eine Lehrerin bei einer Befragung erwähnt, dass Bobby ein lieber Junge und guter Schüler war, aber vernachlässigt schien. Er kam oft schmutzig in die Schule, sodass die Lehrerin in auffordern musste, sich zu waschen. Der Vater stellt sich schnell als windiger, gewalttätiger Typ heraus, dem nicht einmal die eigene Mutter Geld leihen möchte und der deshalb den Stiefvater mit einer Waffe bedroht. Den Lügendetektortest besteht er nicht, bei der Frage, ob er wisse, was mit Bobby passiert sei und wo er sich befinde, schlägt die Nadel aus. Die Mutter besteht ihn. Der Vater gibt an, bei der Arbeit gewesen zu sein, dafür gibt es allerdings keine Belege. Verdächtig ist auch, dass er später die Armbanduhr, die Bobby zu Weihnachten bekommen hatte, weiterschenkt. Bobby soll sehr stolz auf diese Uhr gewesen sein.

 

Ein paar Monate später, als die Mutter im Krankenhaus das Baby zur Welt bringt, kommt es zu einem pädophilen Übergriff durch den Vater. Wer die Opfer sind, wird nicht genannt, um die Personen zu schützen, in jedem Fall Jungen. In einem Schuppen auf dem Gelände befindet sich massenweise Kinderpornografie, Fotos, die der Vater selbst gemacht und dort entwickelt hat. Vor ein paar Jahren, als er zeitweise von der Mutter getrennt war, soll er mit einem Teenager zusammengelebt haben. Die Mutter, frisch aus dem Krankenhaus entlassen, packt daraufhin ihre fünf verbleibenden Kinder zusammen und zieht mit ihnen nach Florida zu ihrer Schwester. Der Vater bittet sie, ihr die Jungen zu lassen, das kommt für sie nicht in Frage.

 

Das Leben der Familie bleibt auch in Florida hart und von Armut geprägt, die Mutter eine Trinkerin. Die Großmutter väterlicherseits versucht, die Kinder zu unterstützen, sie stellt sich unmissverständlich gegen ihren Sohn und sorgt dafür, dass nicht er, sondern seine Kinder ihr Erbe erhalten. Die Schwester trifft den Vater erst wieder, als sie ihn selbst nach einer Entziehungskur aufsucht, um Frieden mit ihrer Herkunft zu machen. Sympathie kommt dabei nicht auf. Sie hält den Vater für den Mörder. Der Verdacht: Bobby habe vorgehabt, jemandem von den pädophilen Handlungen des Vaters zu erzählen. Der älteste Bruder äußert sich nicht im Podcast, er gibt an, sich nicht erinnern zu können. Der jüngere Bruder steuert ein paar verschwommene Erinnerungen bei, die auch Träume sein könnten, allerdings handeln sie von Kadavern, ob Mensch oder Tier, kann er nicht mehr sagen. Anders als die Schwester nehmen die Brüder den Vater in Schutz. Obwohl Mutter und Großmutter den Vater wegen der Pädophilie ablehnen, unterstützen sie die Schwester nicht in ihrem Verdacht, der Vater könnte der Mörder sein. Sie verhalten sich ausweichend. Die Schwester glaubt, dass sie etwas wissen, aber sollte dies der Fall sein, nehmen sie es mit in ihre Gräber.

 

Wie es in Wirklichkeit gewesen ist, weiß ich nicht. Aber würde es sich um einen Kriminalroman handeln, wäre der ältere Bruder der Täter; der pädophile Vater hätte seinen Sohn geschützt, nicht vor seiner Gewalt und seiner Pädophilie, wohl aber vor den Behörden. Mutter und Großmutter hätten das geahnt und ebenfalls zum Schutze des Sohnes geschwiegen.


Tatsächlich eine sehr gute Vorlage für eine Kriminalgeschichte mit komplexen Figuren, die Schwarzweißdenken nicht zulässt und dies ohne jegliche Relativierung der Taten oder Täter.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Augustus (25.09.25, 12:46)
Klar, ungelöste Kriminalfälle regen die Fantasie an. Berühmt für seine deduktive Arbeitsweise in der Literatur ist Sherlock Holmes
Bei modernen Krimiautoren las ich nur Andreas Gruber, insbesondere gefiel mir das Todesmärchen
Etliche Zeitschriften behandeln Mordfälle, ungelöste sowie gelöste. Büchhandlungen bewerben in etlichen aneinandergereihten Schränken Krimiliteratur. Großteil stammt aus Amerika, die in deutscher Sprache übersetzt sind. 

Daneben bietet sich auch der aktuelle Fall „Block - und Entführung der Kinder“, der vor Gericht behandelt wird, als Grundlage für einen Krimi. 

Aber auch auf YouTube hausieren etliche gut aufgearbeitete Videos über Mordfälle, um den Konsum der Interessenten zu stillen. Darüber hinaus ist es sehr aufwendig einen wirklich guten und spannenden Kriminalfall zu literarisieren, und auch eher realistisch, mit diesem keinen Erfolg auf dem Markt zu haben. 

 dubdidu meinte dazu am 25.09.25 um 13:37:
Nun, da bin ich in allen Punkten anderer Meinung. Meine Phantasie wird selten durch ungelöste Kriminalfälle angeregt und ich finde die Aufarbeitung (insbesondere in Videos!) in den allermeisten Fällen zu reißerisch und zu spekulativ.

Diesen Fall halte ich hingegen für sehr geeignet, da sich durch ihn mehrere ineinander verwobene Geschichten gleichzeitig erzählen lassen und würde es jemand machen, spricht nichts dagegen, warum er auf dem Markt nicht erfolgreich sein sollte, es gibt schließlich sehr viele schlechte Krimis, die erfolgreich sind/waren.

 Augustus antwortete darauf am 25.09.25 um 14:31:
Reißerisch und spekulativ: Klar, die Fälle sind ja auch ungelöst und laden ein zur Spekulation. Gelöste Fälle ersticken ja die Spekulation auf 0. 

Bist Du Dir sicher, dass mal das einfach so irgend jemand schreiben soll oder richtet sich die Empfehlung eher an etablierte Profis der Kiminalliteratur, die gerade Inspirationslos sind?  

 dubdidu schrieb daraufhin am 25.09.25 um 15:04:
Hm, wilde Spekulationen machen keinen guten Kriminalroman... Wer bin ich zu beurteilen, wer das können soll, bei diesem Fall ist es sehr einfach, es muss nur noch ausgearbeitet werden. Einzige Voraussetzung wäre die USA und die Verhältnisse in den 60ern dort gut genug zu kennen.

 Augustus äußerte darauf am 25.09.25 um 15:19:
Gerade bei Krimiromanen, die einen Fall schildern und dann den Leser völlig zurück danach vor einem Rätsel stehen lassen, wo er sich selbst bemüht eine Lösung zu finden, oder den Mörder oder unbedingt erfahren möchte, wer der Mörder ist und oftmals wissen will, was seine Motive sind, erzeugen einen Spannungsbogen beim Leser, und wird sofort gefangen: Neugierde sowie der Wunsch der Bestätigung eigener Spekulation reiten den Leser stets bis ans Ende des Buches. 
Was assozierst Du, wenn Du einen Krimi liest? 

Antwort geändert am 25.09.2025 um 15:20 Uhr

 dubdidu ergänzte dazu am 25.09.25 um 15:58:
Krimileser wollen kombinieren, nicht spekulieren, das Genre ist von einem stringenten Aufbau und Fakten und Logik geprägt, die Aufösung muss nachvollziehbar und durch eine im besten Fall erstaunliche (aber nicht weit hergeholte) Kombination der vorhandenen Fakten erfolgen, Aufösungen durch Zufall, Übernatürlichkeit und Verschwörungs-Blaba gelten bei Kritikern als Scheitern am Genre. Ein guter Krimi spielt mit dem Erwartungshorizont der Konsumenten, er verhandelt gut/böse nicht einseitig wie in einem Superheldending.

Anspruchsvollere Krimi weiten die Genregrenzen leicht aus, häufig in Richtung soziale Milieustudie oder psychologisches Porträt, in beiden Fällen sind Klischees zu vermeiden. Ermittlerfiguren sind beliebt, wenn sie menschlich und nicht perfekt sind und ab und an unkonventionelle Methoden anwenden, ohne korrupt zu sein; Täter funktionieren, wenn sie möglichst komplex sind, ihre Tat also nicht mit "einfach böse" erklärt werden kann, befriedigender ist es, wenn deutlich wird, dass sie durchaus eine Wahl getroffen haben, also kein Superheldending.

 Augustus meinte dazu am 25.09.25 um 16:52:
Stimmt. Wobei das Kombinieren erst so richtig durch den weiteren Verlauf des Romans eröffnet wird, die anfängliche Spekulation nimmt durch die langsam zu Verfügung stellende Faktenlage ab; ich vermute es ist ein gekonntes Spiel aus beiden, es muss auch genügend Raum für Spekulationen da sein; denkbar ist auch, dass die Faktenlage den Leser geradezu in die Irre führt; wonach er sich sicher wiegt, die Lösung zu kennen und erst später des besseren belehren wird. Diese Kniffe habe ich bereits auch wo gelesen und wurde übertumpelt. 

Wie auch immer, ich vermute, die Vorarbeiten für so einen Krimi überwiegen die meiste Arbeit; die logischen Zusammenhänge müssen ja bereits im Vorfeld geplant sein; das entsteht nicht gerade während des Schreibens…   

 dubdidu meinte dazu am 25.09.25 um 17:27:
Ja, deswegen praktisch, wenn einem die Wirklichkeit schon ein solches Gerüst serviert, innerhalb dessen nur noch ausgeschmückt werden muss.
Zur Zeit online: