Erdentag

Kurzgeschichte zum Thema Diesseits/ Jenseits

von  Postwestfale

Mein Ableben war unspektakulär: Ich bemerkte es zunächst gar nicht, beziehungsweise ich nahm das, was ich erlebte, mit derselben Selbstverständlichkeit zur Kenntnis wie einen Traum. So saß ich am frühen Abend oben auf dem hohen Pfeiler der Rheinbrücke, links und rechts von mir spannten sich wie überdimensionale Harfen die dicken Drahtseile herab, die die Fahrbahn mit den seitlichen Rad- und Fußwegen trugen. Unten sah ich drei Personen, zwei Läufer und einen Radfahrer, die sich um den reglosen Körper kümmerten, der bis vor wenigen Minuten noch meiner war. Einer der Läufer telefonierte, der Radfahrer unternahm einen unbeholfenen Versuch, meinen Körper in stabile Seitenlage zu bringen, so wie er es vor vielen Jahren wohl in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt und inzwischen wieder erfolgreich verlernt hatte. Kurz darauf kam der Rettungswagen mit blaublinkendem Getöse, drei Leute in grellem Orange sprangen heraus, legten den Körper nach erfolglosen Wiederbelebungsversuchen auf die Trage und bedeckten ihn bis über das Gesicht mit einem hellen Tuch.

Es war ein Scheißtag gewesen, ein Montag. Körperlich und mental noch voll im Wochenende, hatte ich mich morgens zur Arbeit gequält, dort als erstes einen heftigen Einlauf von Dinckel, meinem Chef, erhalten wegen einer Kundenreklamation, die mein Kollege Tom zu verantworten hatte. Nach einem einigermaßen frühen Arbeitsende tauschte ich zu Hause die Dienstkleidung gegen die Laufklamotten und war gleich wieder raus, meine übliche Runde. Auf der Nordbrücke spürte ich ein plötzliches Stechen in der Brust, dann war es schon vorbei.

Ich lief zunächst weiter, leichter und unbeschwerter als je zuvor, mit jedem Schritt hob ich ein Stück ab, als hätte die Schwerkraft nachgelassen. Ich konnte nun Sprünge von mehreren Metern machen, und wenn ich mich vom Boden abstieß, hielt ich mich sekundenlang in der Luft und sank langsam wieder zu Boden, wie einst Armstrong auf dem Mond; außerdem war ich nackt.

Während sie unten die Trage mit dem Tuch darüber in einen soeben eingetroffenen Leichenwagen schoben, an einem Ende lugten zwei Füße mit Laufschuhen hervor, hörte ich eine Stimme schräg hinter mir meinen Namen sagen. Ich drehte mich um und schaute in die Augen eines jungen blonden Kerls, der wie aus dem Nichts neben mir auf dem Brückenpfeiler saß. Er trug eine Art Overall aus einem schimmernden silbergrauen Stoff. Mit sanfter Stimme sagte er:

„Entschuldige bitte meine Verspätung, mir ist noch ein Flugzeugabsturz mit dreiundfünfzig Toten dazwischengekommen. Bist du so weit, können wir?“

Ohne zu antworten, bedeckte ich meine Blöße mit der Hand. Wer war dieser Typ, was redete er für komisches Zeug?

„Ach ja, entschuldige, hier zieh das über.“ Dann reichte er mir so ein ähnliches Teil wie er trug, nur aus einem beige-gelben Stoff, ohne diesen Schimmer. Ich schlüpfte hinein, es passte wie maßgeschneidert und trug sich sehr bequem. „Also?“, fragte er auffordernd und reichte mir seine Hand, die angenehm weich und warm war. Ich konnte gerade noch nicken, dann schlief ich ein.

 

Ich erwachte auf einem Sofa in einem schwach beleuchteten Raum, noch immer steckte ich in diesem beige-gelben Overall.

„Wie fühlst du dich?“, fragte eine junge Dame mit freundlicher Stimme, sie trug ein mittellanges Kleid aus demselben silbrig-schimmernden Stoff wie der blonde Kerl vorhin. Anscheinend war der merkwürdige Traum noch immer nicht zu Ende. Die Dame stand hinter einem Stehpult schräg vor mir und füllte ein Formular aus.

Wie ich mich fühlte? Großartig fühlte ich mich, leicht, unbeschwert wie selten zuvor. „Wo bin ich?“, fragte ich, anstatt ihre Frage zu beantworten.

Sie lächelte und schaute wieder auf das Formular vor sich. „Du wirst dich hier sehr wohl fühlen. Wie ich sehe, warst du im Großen und Ganzen ein anständiger Mensch, du kannst hier mit einem angenehmen und langen Aufenthalt rechnen, wenn du magst.“

Ich zwickte mich ein paarmal in den Handrücken, der Traum war zwar ganz nett, aber doch langsam etwas unheimlich. Was sollte das heißen: Ich war ein anständiger Mensch, bin ich das jetzt etwa nicht mehr? So sehr ich mich auch zwickte, ich wachte nicht auf, daher beschloss ich, erstmal bewusst weiter zu träumen.

„Nur noch ein paar Formalitäten ... Ich bin übrigens Amanda, wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit zu mir kommen. - So, dann noch kurz ein paar Daten abgleichen: Du heißt David Beckers, geboren am 4.3.1979 in Hattingen“ - Ich nickte. - „Gestorben am 12.4.2025 in ...“

Ich nickte nicht mehr, konnte ihr auch nicht mehr folgen. Wieso gestorben? Schon lange hatte ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt wie jetzt!

„Lebenswandel absolut tadellos“, schloss sie. Dass ich rauchte wie eine Güterzugdampflok, ganz gerne mal ein paar Bier zu viel trank und durchaus ein Auge auf andere Frauen hatte, auch als ich noch mit Claudia zusammen war, ferner dass ich Tom und Dinckel mehr als einmal die Pest oder schlimmeres an den Hals wünschte und zuletzt mit vierzehn an einem Gottesdienst teilgenommen hatte, längst aus der Kirche ausgetreten war und fluchen konnte wie ein oberbayrischer Bierkutscher, weiterhin in der letzten Zeit einen schon krankhaft zu nennenden Pornokonsum an den Tag legte, schien aus ihren Unterlagen nicht hervor zu gehen, oder jedenfalls nicht negativ ins Gewicht zu fallen. Da ich immer noch nicht aus dem Traum aufgewacht war, musste ich wohl tatsächlich gestorben sein.

 

***

 

Der Aufenthalt hier ist wie ein dauerhafter Urlaub und hat so gar nichts gemein mit den üblichen Himmelsklischees; weder trägt man wallende Gewänder, noch sitzt man den ganzen Tag Harfe spielend auf einer Wolke, was auf Dauer ziemlich langweilig wäre, auch wird nicht verlangt, dass man den ganzen Tag den Herrn lobpreist; niemand läuft mit einem Heiligenschein herum, der Leuchtreklame der irdischen Kirchen. Das Personal trägt die silbergrau schimmernden Klamotten und ihnen wachsen keine Flügel aus dem Rücken; man sollte sie übrigens niemals Engel nennen, sie reagieren darauf empfindlich, wie wenn man auf Erden Wachtmeister zu einem Wachtmeister sagt, sonst sind sie sehr freundlich. Auch darf man jederzeit von allen Bäumen Obst pflücken und essen, ohne befürchten zu müssen, deswegen irgendeines Gartens verwiesen zu werden.

 

Man darf auch auf die Erde reisen: zur eigenen Beerdigung und einmal im Jahr für jeweils einen Tag, an einen beliebigen Ort und in eine beliebige Zeit. Grundsätzlich reist man nicht als Mensch; man kann wählen zwischen der Gestalt eines beliebigen Tieres oder der Körperlosigkeit, gleichsam als Geist. Daher, wen mal wieder eine Fliege nervt, schlage nicht gleich danach, es könnte Opa sein.

 

Meiner Beerdigung wohnte ich als gemeine Stubenfliege bei und drehte summend meine Runden durch die Friedhofskapelle, während der Pastor neben meinem blumengeschmückten Sarg versuchte, mich im Lichte eines guten Menschen erscheinen zu lassen, der viel zu früh gegangen ist. Mein Vater saß neben meiner Mutter in der ersten Reihe, er hielt mich seit jeher für einen Versager, ganz im Gegensatz zu Christopher, meinem strebsamen älteren Bruder, der es zu einem führenden Manager mit Familie, Villa und Geschäftswagen gebracht hatte. Ich hingegen lieferte nach abgebrochenem Studium als Zusteller Pakete aus, auch samstags und bei Regen; an manchen Tagen, gerade vor Weihnachten, sehr anstrengend, aber ich mochte meinen Job. Christopher saß neben meiner Mutter, um einen betroffenen Blick bemüht, in den Gedanken jedoch vermutlich ganz woanders, am liebsten hätte er wohl sein Telefon aus der Tasche gezogen, um die Zeit des sakralen Geschwafels produktiv zu nutzen; ich konnte es ihm nicht verdenken, die Predigt war wirklich grauenhaft, voller Bibelgeschwafel, das mit meiner Person nur wenig zu tun hatte.

Während Claudia sich drei Reihen dahinter ein paar Tränen aus den Augenwinkeln wischte, saß Tom mit ausdruckslosem Gesicht daneben, fast konnte ich ihn denken hören: Wann ist das nur endlich hier vorbei? Daneben Dinckel, unser Chef, in sein Smartphone vertieft im Schutze der vor ihm sitzenden. - Na warte, dachte ich, drehte ein paar Runden um seinen Kopf und ließ mich auf seiner Nase nieder, wurde verscheucht, kehrte zurück, wich seinen Mordversuchen aus, wieder und wieder. Endlich konnte ich mal ihm auf der Nase herumtanzen.

Danach flog ich zu den duftenden Chrysanthemen auf dem Sarg, unter mir ein Kranz mit der unvermeidlichen Schleife „Letzter Gruß“, und wartete das Ende der Predigt ab. Viele waren nicht gekommen zu meinem letzten Geleit, ungefähr zwanzig Leute, neben den schon genannten noch einige weitere Kollegen und ein paar Jungs aus dem Sportverein. Den Rest kannte ich nicht, allesamt deutlich jenseits der Sechzig, vielleicht Schaulustige, Beerdigungs-Hopper, die ihren tristen Alltag mit einer Vorschau auf ihre nicht mehr ganz so ferne Zukunft würzten, was weiß ich.

Schließlich spielte die Orgel, sechs dunkel gekleidete Männer mit Zylinderhut wuchteten den Sarg und die umliegenden Kränze und Blumengestecke - viele waren es nicht - auf einen Wagen, dann ging es los zur Grube, ich blieb in meiner Chrysantheme sitzen. Der Pastor vorneweg, dann ich, also der Sarg mit den sechs Zylindern, dann meine Eltern und mein Bruder mit Blick auf sein Telefon, gefolgt vom übrigen schwarz gewandeten Publikum. Nach einem Marsch von etwa zehn Minuten erreichten wir die Gruft, der Duft frischer Erde lag in der Luft, „Der Herr hat‘s genommen ...“ und so weiter, dann walteten die sechs Zylinderträger ihres Amtes.

Ich verließ meine behagliche Blüte und nahm auf dem bemoosten Grabstein Platz, in den schon die Namen von Oma und Opa eingemeißelt waren mit Geburts- und Sterbedaten; bald würde auch mein Name dort stehen. Von dort aus verfolgte ich, wie der Sarg, an drei langen Seilen von den sechs dunklen Jungs gehalten, langsam in die Tiefe fuhr; schließlich zogen drei von ihnen mit geübtem Griff die nun schlaffen Seile nach oben, die sechs lüfteten kurz die Zylinder, dann zogen sie sich zurück aus dem direkten Blickfeld der schwarzen Gesellschaft, eine Zigarettenschachtel kreiste, Feuerzeuge flammten auf, und einer von ihnen zog einen Flachmann aus seinem schwarzen Mantel und reichte ihn herum. Wäre ich in dem Moment keine Fliege gewesen, hätte ich grinsen müssen.

Ich blieb noch ein wenig auf dem Grabstein sitzen und schaute zu, wie Schäufelchen um Schäufelchen Erde in die Grube gestreut, Hände geschüttelt, Anteilnahme beteuert wurden. Als Dinckel an der Reihe war und schließlich meinen Eltern die Hände schüttelte, reichte es mir. Ich ärgerte noch ein bisschen meinen Bruder und ließ mich schließlich bereitwillig von ihm auf seiner Stirn erschlagen; es war an der Zeit zur Rückkehr in mein bequemes neues Leben.

 

Ansonsten bevorzuge ich am Erdentag Orte, an denen ich glücklich gewesen war. Ein solcher Ort war das Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Sie wohnten gut zwei Autostunden von uns entfernt in einem alten Bahnwärterhaus auf dem Land. Ein paarmal am Tag kurbelte der Bahnmann in der Bude nebenan die Schranken herunter und ein Zug kam vorbei, ansonsten war es ruhig. Das Haus war sehr alt, mit dicken roten Ziegelwänden, statt einer Zentralheizung gab es mehrere Öfen, die befeuert werden mussten.

Ringsum waren Felder, Kuhweiden und ein Wald, in Sichtweite ein Bauernhof. Für uns Stadtkinder war das wie ein riesiger Abenteuerspielplatz. Während Christopher die meiste Zeit auf dem Bauernhof nebenan verbrachte, wo er bei der Heuernte half, beim Kühe Melken oder was sonst gerade anstand - er war halt von jeher der Typ, der anpackte -, streifte ich stundenlang allein durch den Wald und die Felder, legte mich auf die Wiese und beobachtete die Lerche, die nervös zwitschernd über mir in der Luft festzukleben schien.

Besonders gerne spielte ich mit der Katze des Hauses. Obwohl sie nicht ins Haus durfte, war sie in meinen Augen das freieste und beneidenswerteste Wesen der Welt, den ganzen Tag konnte sie draußen herumlaufen, Mäuse fangen oder einfach nur in der Sonne herumliegen. Zu fressen bekam sie die Reste vom Mittagessen, die Oma ihr auf einen Teller vor die Haustür stellte, und sie schlief in einem Schuppen neben dem Haus, der früher mal als Hühnerstall gedient hatte, jetzt nur noch Gerümpel, Gartengeräte und Brennholz beherbergte.

Für mich war es das Paradies. All das gibt es heute nicht mehr, Oma und Opa sind längst gestorben, die Bahnstrecke wurde stillgelegt, das Haus fraß der Bagger, als die Straße zu einer vierspurigen Schnellstraße ausgebaut wurde. Heute erinnern nur noch ein zugewachsener Bahndamm und die große Linde, die vor dem Haus stand, an diesen Glücksort meiner Kindheit.

Dort also verbrachte ich einen Erdentag, als Katze. Geweckt wurde ich früh morgens von der Glocke der Schranke, kurz darauf vernahm ich aus der Ferne das dumpfe Brummen einer Diesellok, dann brauste auch schon der Frühzug vorbei und ließ den Schuppen leicht erzittern. Ich öffnete die Augen und erblickte als erstes meine haarigen Vorderpfoten, auf denen mein Kopf ruhte. Mein Schlafplatz auf einem alten Sack neben dem Brennholzstapel war sehr gemütlich, gerne wäre ich noch etwas liegen geblieben, aber so ein Tag ist kurz. Ich verließ den Schuppen durch die kleine Klappe auf Bodenhöhe, durch die früher die Hühner ein- und ausgegangen waren, buckelte und streckte meinen Katzenkörper ausgiebig.

Das Erste, was ich wahrnahm, war der vertraute Geruch der Umgebung, diese Mischung aus Wiese, einem Hauch Jauche vom Bauernhof nebenan, Holzfeuerrauch aus Omas Küche und den Ausdünstungen der imprägnierten Bahnschwellen. Ich blickte zum Haus, in der Küche brannte Licht, wahrscheinlich machte Oma schon das Frühstück. Auch ich verspürte leichten Appetit, daher ging ich zur Haustür in der Hoffnung, einen gefüllten Resteteller vorzufinden. Der Teller stand dort auch, leider leer, von gründlicher Katzenzunge restlos sauber geleckt. Na gut, versuche ich es später noch einmal.

Die Haustür öffnete sich, Opa trat heraus in seinem bleichgrauen Arbeitsanzug, den er meistens trug, mit seiner großen Brille, auf dem Kopf die alte Eisenbahnermütze, die er draußen immer trug, und Zigarillo im Mund. Wenn es den Prototypen eines Opas gab, dann war es meiner, kein Märchenbuchzeichner der Welt hätte einen opamäßigeren Opa malen können.

Opa hatte immer etwas zu tun: den Garten umgraben, Kartoffeln pflanzen, Holz hacken, irgendwas herumwerkeln; zwischendurch ging er rüber zum Schrankenwärter, ein Schwätzchen halten, eine rauchen und ein Schnäpschen trinken, was weder Oma noch die Bundesbahndirektion wissen durften. Manchmal hatte er mich mitgenommen. Um mich zu beschäftigen, während die Herren ihre Medizin nahmen, wie sie es nannten, durfte ich die Schranken runter- und wieder hochkurbeln, obwohl der nächste Zug erst in gut einer Stunde kam. Früher war Opa selbst Schrankenwärter gewesen, als hier noch D-Züge mit Dampfloks fuhren. Nach seiner Pensionierung durften sie dann hier wohnen bleiben, Oma und Opa; die neuen Schrankenwärter wohnten alle woanders und kamen mit dem Auto zum Dienst.

„Na, biste auch schon auf den Beinen?“, fragte er mich, die Katze. „Warte mal“, sagte er, ging zurück ins Haus und kehrte mit einem Schälchen Milch zurück, das er mir hinstellte und mir kurz über meinen Katzenkopf streichelte, guter Opa, begierig machte ich mich über die Milch her.

Opa ging die kleine Treppe vor dem Haus hinunter zum Schuppen, die Haustür ließ er angelehnt. Welch Versuchung! Wohl wissend, dass der Katze das Betreten des Hauses strengstens verboten war, steckte ich meinen Kopf in den Türspalt und horchte nach Oma. Nichts zu hören. Also noch mal ein vorsichtiger Blick zurück, von Opa nichts mehr zu sehen, und hinein ins Haus, nur mal schauen, ob alles noch so war, wie ich es erinnerte. Aus der Küche kam der Duft nach Braten und Rotkohl, ich freute mich schon auf den heutigen Resteteller. Doch kaum war mein Schweif über die Türschwelle gefegt, traf mich ein Besen von vorne, begleitet von „Schschsch ... machst du wohl, dass du rauskommst!“ Auf der Stelle machte ich kehrt und sauste durch den Türspalt raus, wo ich mich unter dem Fliederbusch verkroch. Das Wiedersehen mit Oma hatte ich mir etwas harmonischer vorgestellt. So wie Opa der Prototyp eines Großvaters war, war sie die typische Oma aus dem Bilderbuch, robuste Statur mit Haardutt und geblümtem Küchenkittel, stets gutmütig zu den Enkelkindern, doch kompromisslos gegenüber der vierbeinigen Kreatur.

Plötzlich vernahm ich hinter mir ein Rascheln und einen Ton, der so etwa wie „mau“ klang, ich schaute mich um und blickte in die messerscharfen Pupillen eines riesigen getigerten Katers, der sich mir in offenbar eindeutiger Absicht näherte. Da ich wenig Verlangen verspürte, mich begatten zu lassen, schon gar nicht vor dem Essen und von einem solchen Monstrum, machte ich einen Buckel und fauchte ihn an, was ihn jedoch wenig beeindruckte, er machte noch einmal „mau“, wedelte zwei- dreimal mit seinem getigerten Katzenschweif und schlich näher an mich heran. Ich stieß einen Laut aus, wie ihn bedrängte Katzen von sich geben, dann schoss ich unter dem Busch hervor, die Treppe hinunter, über den Hof in den Schuppen. Das Tiger-Ungetüm folgte mir ohne Eile, in bedrohlicher Seelenruhe, wie ich von der Hühnerklappe aus mit wachsendem Entsetzen beobachtete. Plötzlich traf ihn ein Gegenstand am Kopf, Opa hatte einen alten Schuh nach ihm geworfen, begleitet von einigen unfreundlichen Worten. Jetzt war es der Kater, der aufschrie und das Grundstück fluchtartig verließ in Richtung der Kuhweide.

Gerade als ich über den Hof trippelte, um Opa bei der Gartenarbeit zuzusehen, kam ein Auto auf den Hof gerast, fast hätte es mich erwischt, ich konnte mich gerade noch mit einem Sprung zur Seite retten, vor Schreck verkroch ich mich im Holunderbusch, von wo aus ich das weitere Geschehen beobachtete: ein dunkelblauer Ford Taunus, so wie mein Vater ihn früher fuhr, hielt vor dem Haus, die Türen öffneten sich und vier Personen stiegen aus, ein Mann, eine Frau und zwei Jungs im Alter von etwa sechs und zehn Jahren. Das war ich! Genauer: mein Vater, meine Mutter, mein Bruder Christopher und ich. Mein Vater trug einen dunkelgrauen Anzug, auch am Wochenende konnte er den leitenden Angestellten nur schwer ablegen, immerhin verzichtete er auf eine Krawatte; meine Mutter trug ein leichtes Sommerkleid, die beiden Jungs kurze Hosen und T-Shirts, der ältere, Christopher, war gut einen Kopf größer und von deutlich kräftigerer Statur als der kleine dürre David, dessen bleiche Beine wie Besenstiele aus den weiten Hosenbeinen stakten. Opa unterbrach die Gartenarbeit, Oma kam aus dem Haus, Händeschütteln, Umarmungen, den Jungs über den Kopf streicheln, dann verschwanden sie alle im Haus.

 

(Wie beschreibe ich eine Situation, in der zwei Ichs die Protagonisten sind, zum einen in Gestalt einer Katze, zum anderen als sechsjähriger Junge? Ich könnte vorübergehend die Perspektive wechseln, nur noch von „der Junge“ und „die Katze“ schreiben. Ich wähle eine andere Form, wobei ich annehme, dass wir, der Leser und auch der Schreiber, trotzdem den Überblick behalten werden. Also: ,Ich‘ ist im Folgenden die Katze, und ,David‘ der Junge, der mal ich war. Alles klar? Dann weiter im Text.)

Ich hatte mich inzwischen auf der kleinen Mauer am Garten in die Sonne gelegt, als wieder Leben in die Szene kam, offenbar war das Mittagessen zu Ende. Die Haustür ging auf, Oma kratzte etwas auf meinen Teller, Christopher trottete rüber zum Bauernhof, die Erwachsenen gingen in den Garten, wo unter dem Kastanienbaum ein Tisch und einige Stühle standen, und David kam direkt auf mich zu, strahlte, als er mich sah, streichelte mir über den Kopf und begrüßte mich mit einem Nasenstüber. Ich schnurrte besonders laut.

„Komm“, rief der Kleine, ich entrollte mich von meinem Sonnenplatz, streckte meinen langen Katzenkörper, gähnte einmal kurz und sprang dann von dem Mäuerchen, David hinterher, der bereits den Feldweg neben dem Bahndamm entlanglief.

Die folgenden Stunden streiften wir durch die Wiesen, Felder und den Wald, beobachteten Vögel, Kühe und Züge, er pflückte Blumen, bis aus der Ferne eine Stimme „Daaaviiid!“ rief, die Stimme meiner Mutter, vermutlich gab es bald Abendessen. Erst jetzt dachte ich wieder an den Teller vor dem Haus mit den Köstlichkeiten des Mittagessens, erst jetzt machte sich auch mein kleiner Katzenmagen bemerkbar.

„Gute Nacht“, flüsterte mir David zu, „bis morgen!“ Er kraulte noch ein paar Minuten lang meinen Kopf, dann verschwand er mit den anderen im Haus. Bis morgen - wie gerne hätte ich den nächsten Tag noch mit ihm, mit mir verbracht.

Mittlerweile habe ich einige Erdentage erlebt, als Möwe auf der Insel Wangerooge, als Bergdohle in den Allgäuer Alpen, als Kakerlake auf Teneriffa, doch dieser Tag mit mir selbst bei Opa und Oma war bislang der schönste.


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