Ich sitze da und fühle mich wie jemand, der sich den Weg zum Schafott ewig lang vorstellt, um jede Sekunde, die er noch leben darf, so gut wie möglich auszukosten. Warum habe ich solche Gedanken? Nun ja, man hielt mich in diesem königlichen Spiel für ein Wunderkind, doch richtig gute Gegner hatte ich bisher noch nicht.
Also gut, ich gewann davor gegen den Deutschen Meister jede Partie, aber was soll's, so gut wie der jetzt, der vor mir sitzt, war dieser bei Weitem nicht, also bleibt mir nichts anderes, als zum ersten Mal in meinem Leben zu verlieren, und zwar gegen den sechsfachen Weltmeister, der bisher in seinem Leben nur eine Partie verlor, und auch nur deswegen, weil er mit vierzig Grad Fieber dank einer schweren Erkältung deutlich geschwächt war.
Und nun sitze ich ihm gegenüber, dem derzeit mächtigsten Schachdenker der Welt, also mir gegenüber, der zwar bisher in seinem Leben noch keine einzige Partie verlor – abgesehen von jenen, die ich absichtlich verlor; den Grund will ich hier aber nicht verraten.
Er wartet auf meinen Zug, ich darf mit Weiß beginnen. Ich ziehe einen Randbauern um eins nach vorne – ein sehr ungewöhnlicher Eröffnungszug. Er donnert mit seinem Königsbauern gleich in die Mitte hinein, ich kontere mit meinem Pferd rechts. Aber ganz ungewöhnlich nach außen. Er zieht den nächsten Bauern in die Mitte hinein. Ich springe mit dem Pferd wieder zurück an seine ursprüngliche Position.
Sein Blick verändert sich, sein Gesicht wirkt blass. Er springt dem Bauern, der vorne ist, mit dem Pferd hinterher – ich springe mit dem linken Pferd ebenfalls nach außen, dieses Mal ganz nach links.
Verdutzt blickt er zu mir. Ich halte meine Emotionen zurück und blicke ihn kühl und berechnend an. Ich studiere seinen Gesichtsausdruck und versuche, seine Gedanken zu lesen. Auch sein anderes Pferd kommt ihm zu Hilfe – ja, er breitet sich förmlich aus und besetzt das ganze Mittelfeld. Ich kontere, indem ich das linke Pferd wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurückspringen lasse.
Sein Gesicht jetzt kreidebleich und mit Schweiß auf der Stirn. Wir beide wissen, dass er das Mittelfeld gut besetzt hat und dass sich seine Gewinnchancen durch das Zurückspringen meines Pferdes von zwei Dritteln auf gut drei Viertel erhöht haben.
Was er allerdings noch nicht weiß, ist, dass ich mit diesem Trick viel über seine Präferenzen im Mittelspiel herausfinde – ihn sozusagen durch meine Falle aller seiner Geheimnisse beraube. Wenn ich diese erst voll und ganz ergründet habe, werden sie die Grundlage für meine Strategie sein, gegen die er keine Chance haben wird, sofern es mir gelingt, mein Konzept bis zum Ende durchzuhalten.
Die ersten Partien einer Meisterschaft dienen in erster Linie dazu, den Gegner genau zu beobachten, um herauszufinden, wie er denkt, wie er je nach Stellung agiert und reagiert. Nach vier verlorenen Partien hatte ich die notwendigen Informationen, um ihn ab den nächsten Partien zu besiegen – zumindest erhoffte ich mir das. Das vorherige Verlieren sollte sich endlich auszahlen. Nur, ganz sicher war ich mir nicht. Es war auch ziemlich experimentell. Wer weiß, vielleicht gelang es ihm auch, mich durch seine Züge zu täuschen. Ganz sicher kann man nie sein.
Und die Rechnung ging auf. Nach dem Spielstand von 6:4 bin ich jetzt gegenwärtig inoffizieller Weltmeister, was mich selbst erstaunt, denn ich hatte erst vor drei Monaten angefangen, Schach zu lernen.