Was ist Religion?

Monolog zum Thema Metaphysik

von  Jack

Dieser Text ist Teil der Serie  Versuche und Irrtümer


Ja, was zur Hölle ist denn Religion? "Die fünf Weltreligionen: Hinduismus, Buddhismus, Chinesischer Universismus, Christentum, Islam", so heißt ein Standardwerk von Helmuth von Glasenapp (München, 1963). Sind das alle Religionen? Mitnichten. Es gibt natürlich viel mehr davon. Doch bevor die Frage, welche Religionen es gibt, gestellt werden kann, muss die Frage gestellt werden, was überhaupt Religionen sind. Sind Hinduismus, Buddhismus, "Chinesischer Universismus", Christentum und Islam alles Religionen? Ohneneffen. 

Welche davon Religionen sind, und welche nicht, darüber kann jeder selbst meditieren, und zwar nach der Lektüre eines Zitats aus Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Berlin, 2014, S. 232. Der einzige deutsche Philosoph der Gegenwart schreibt: "Von der bestehenden Kultur besessen sein heißt: keine Alternative zu ihr sehen – und keine sehen wollen, können und dürfen. Wer in den überlieferten Formen aufgeht, findet außerhalb der Zwangsgemeinschaft des Eigenen kein Heil. Das Leben in älteren Volksverbänden folgt zumeist dem Gesetz der totalen Inklusion ins Kollektiv, die, wie bemerkt, seit langem in zuverlässiger Gedankenlosigkeit mit "Religion" verwechselt wird, obschon es sich in der Sache praktisch immer eher um totalitäre Vereinsregeln als um symbolische Verhandlungen mit dem Ungeheuren handelt. Allein die letztgenannte Leistung böte die angemessene Definition der "Funktion der Religion"". 

Regelwerke mit totalitärem Geltungsanspruch haben nichts mit Religion zu tun, sie sind Voraussetzungen absoluter Mitgliedschaft in sozialen und ethnischen Gruppen. Religion ist aber individuell, nicht ethnosozial: weder die Gattung noch eine soziale Gruppe, sondern nur das Individuum kann religiös sein, d. h. einen bewussten Bezug zu seiner zeitlichen Vergänglichkeit, ewigen Unsterblichkeit und moralischen Freiheit herstellen. Mitglieder von Alternativlosgemeinschaften gehorchen "totalitären Vereinsregeln", religiöse Menschen führen "symbolische Verhandlungen mit dem Ungeheuren". 

Kant, für den die heilige Messe nichts als ein "Afterdienst Gottes" war, kann als ein tiefreligiöser Mensch bezeichnet werden: seine Religionsphilosophie, angefangen mit der Kritik der praktischen Vernunft, in der Religion aus dem Beweis moralischer Freiheit entwickelt wird, ist eine der intelligentesten "Verhandlungen mit dem Ungeheuren". Ein stockfrommer Pfarrer, der strengstens den Vereinsregeln der katholischen Kirche gehorcht, den großen Fragen über Sinn des Lebens, Freiheit und Unsterblichkeit aber im Vertrauen auf eine zur rechten Zeit folgende göttliche Antwort nicht nachgeht, ist kein religiöser Mensch. Er lässt sich, je nach Totalitätsgrad seiner Mitgliedschaft in der pseudoreligiösen Gemeinschaft, eher mit einem Sektenführer, einem kommunistischen Revolutionär, einem Radikalfeministen, einem Ökonihilisten oder einem Fussballfan vergleichen.

Religion hat nichts mit Gattung und Gemeinschaft zu tun, sie ist eine höchst individualistische Veranstaltung; Religiösität ist nicht mit dem Glauben an die Echtheit der Bibel oder des Koran gleichzusetzten, sondern mit der Intensität und existentieller Ernsthaftigkeit des Nachdenkens über die großen Sinnfragen von "Was soll ich in dieser Welt?" bis "Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts".

Kann es Offenbarungsreligionen geben? Können Offenbarungsreligionen Religionen sein, wenn Religion eine Form des Bezugs des Einzelnen zum Göttlichen ist? Natürlich, denn der sich offenbarende Gott spricht nicht zur Herde, sondern zu einzelnen Menschen. Individuen haben Visionen, Eingebungen, Gespräche mit Gott. Es kann also Offenbarungsreligionen geben; damit eine bestimmte Offenbarungsreligion als Religion bezeichnet werden kann, muss gefragt werden: Was fordert diese Offenbarungsreligion vom Individuum? Wird der Einzelne durch sie vom biologischen und sozialen Zwang befreit oder noch gründlicher darin versklavt? Geht es in ihr um etwas anderes als nur um Regeln des Zusammenlebens in der Gemeinschaft, die sich zu dieser Religion bekennt?

Nehmen wir naheliegenderweise das Christentum. Was fordert der Namensgeber Christus von einem Menschen, der sich seiner Religion anschließt? In der Einheitsübersetzung des Lukasevangeliums (14,26) spricht er: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein". Klingt das nach sozialer Disziplinierungsmaßnahme, nach Gattungsgewühl und Ameisenglück? Fordert der menschgewordene Gott vom Individuum Unterwerfung unter Natur und Gesellschaft? Im Gegenteil, er fordert dazu auf, alle unheiligen Bande aufzulösen: die familiären, die sozialen, die biologischen. Der Mensch ist in den Augen Gottes ein Einzelner, ein Ich. 

Das Christentum ist, richtig verstanden, eine echte Religion. Institutionalisiertes Christentum war bisher ein Machtinstrument der Gesellschaft, der Familie, der Gattung, um das Individuum stärker zu binden und totalitär zu versklaven. Man sagte Jesus und meinte Kybele (die große Mutter); der Kult um eine Mutter gewordene Jungfrau, der Marienkult, ist ein Hybrid thomistischer Ausmaße (Thomas von Aquin amalgamierte in seinem Lebenswerk die christliche Theologie mit der aristotelischen Philosophie). Das Christentum ist als Religion früh gescheitert, hat aber als totalitäre Ideologie formidabel reüssiert.

Einfach göttlich: "Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig" (Matthäus 10,35). Das Soziale und das Biologische werden in der Religion unter das Individuelle und Geistige gestellt; nicht die Aufklärung, sondern die Religion ist der Ausgang des Menschen aus seiner (anerzogenen) Unmündigkeit.




Anmerkung von Jack:

2016

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Augustus (23.10.25, 11:08)
Ein guter Text, der zum Nachdenken anregt. 

Geliebte Personen aufzugeben, um würdig als Anhänger Jesus zu gelten, kann auch darin liegen, dass man sich nicht noch anderen Menschen gegenüber verpflichtet fühlt. Nicht umsonst widmen Pfarrer und Nonnen ihr gesamtes Leben katholischem Gott. Es ist also vielmehr das Pflichtgefühl und mit Kant nah verwandt, was die kath. Religion fordert. Echte Religion verpflichtet. Echte Religion ist uneigennützig

Man darf auch nicht vergessen, dass das frühe Christentum eine friedliche Bewegung gegen die römischen Besatzer war, die selbst später zum Besatzer mutierte und weltweit christianisierte.  

Interessant ist das Ganze von einer anderen Perspektive zu beurteilen: die Erde bzw. die Menschheit als Programm wehrt sich (und denkbar ist eine unbekannter Code), gegen Gleichschaltung
Um nach Spengler schlendern  nicht nur Zivilisationen nach einer kulturellen Hochphase in den Abgrund, sondern wie zu beobachten, auch Religionen können davon betroffen sein. 
Meine Behauptung, jede alte Religion wird durch neuartige Religionen abgelöst, sobald die Zivilisation einen kulturellen und technischen Sprung nach vorne macht. Die Dekadenz einer Gesellschaft ist ein Anzeichen dafür, dass bereits im Hintergrund etwas Neues bereitsteht. 
Das Anhängen an klassischen  Religionen bedeutet, dass man sich seines Ichs nicht genug bewusst ist, um festzustellen, dass zwischen Sich und Gott bereits eine individuelle Religion besteht. Vor diesem Hintergrund, erkannte Jesus seine Religion mit Gott. Die, die ihm nachfolgten, erkannten zwar seine Religion, ihre eigene aber nie. Dies hier weiter auszubreiten, würde hier den Rahmen sprengen. 

Ich denke, es haben sich genügend große Geister an der kathol. Kirche abgearbeitet. Man sollte auf jemanden, der bereits am Boden liegt, nicht noch weiter drauftreten. Leider werden mit den Institutionen auch die abstrakten und durchaus wichtigen Botschaften der Bibel mitverschwinden. 
Tatsächlich erkennt man, dass die wahre kath. Religion eine Individualreligion ist, und nur dadurch für die Massen fruchtbar, weil andere keine eigen Religion entwickeln konnten. 
Genauso läuft es aber in der Simulation ab; ein Update des Systems muss quasi auch angestoßen werden; und immer fängt dies mit einer Person an, die eine besondere Botschaft zu verkünden hat. 

Bedenkt man, dass die Anfänge aller Religionen aus Angst und Furcht vor Gott beruhten, wandelte sich die Beziehung zu Gott zu immer positiveren, gutmütigen Gefühlen. Einst wurden etliche Opfer dargeboten, um den Gott zu besänftigen. Blut dem Gott. Dabei fragt man sich indirekt, ob es in diesen Zeiten gar keine Liebe zu Gott gab? 

Interessant ist dabei, dass Jesus unter diesen Umständen der Furcht und Angst der Menschen, mit Liebe entgegentrat. Ein weiterer Aspekt ist von entscheidender Bedeutung; mir vor Jesus Erscheinung erlosch mit Kleopatra die pharaonische Kultur und insbesondere die religiösen Bräuche, zumindest bestand kein Zwangsgebot, dass diese gesetzlich eingehalten werden muss. Just danach tauchte eine neue Religion auf, die sich in diesen Gefilden ausbreiten konnte; das Christentum. Fraglich bleibt und bisher ungeklärt, ob das Christentum sich in der Pharaonenzeit durchgesetzt hätte.

 EkkehartMittelberg (23.10.25, 11:09)
Wenn man die geringe Wahrnehmung dieses hochinteressanten Essays betrachtet, ist Religion das, was vielen Menschen am Steiß vorbeigeht.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online: