andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 28. Januar 2010, 03:09
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eine besondere Uhr

Es ist ein interessantes Phänomen, dass immer mehr Fachbegriffe in die Alltagssprache schwappen, obwohl sich doch angeblich eine Bildungsmüdigkeit über die Bevölkerung gebreitet hat. Vom einer Primitivierung der Sprache ist die Rede und von den fatalen Auswirkungen der Rechtschreibreform, doch andererseits finden immer neue Begriffe, besonders die bildhaften Begriffe, ihren Weg zu breiteren Teilen der Bevölkerung.
Bei Fachbegriffen ist das noch verständlich, aber Wörter wie “relativ“ hatten früher keinen Platz in der Sprache. Erst die Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse führte dazu, dass eine abgespeckte Version mit “alles ist relativ“ Einzug finden konnte.
Für mich ist besonders interessant, dass auch biologische Begriffe dabei sind. Manchmal in scherzhaften Formulierungen wie “das mendelt sich schon raus“ oder “das sind die Hormone“, aber immerhin mit einem gewissen Hintergrundwissen behaftet, das, wenn es auch oft haarscharf daneben geht, schon von Bildung zeugt. Virus, Evolution, Gen, Homo Sapiens, Verhaltensforschung, Missing Link, Bakterienkolonie, Laktose, Zellulose, Hämoglobin, Photosynthese, Mutant, Mimikry … jedes dieser Wörter habe ich inzwischen schon im Supermarkt oder in der U-Bahn gehört.
Sogar den “genetischen Flaschenhals“ habe ich schon vernommen (und nicht nur in diesem Forum). Ein Begriff, der eigentlich den Moment meint, in dem eine Tier- oder Pflanzenart so in Bedrängnis gekommen ist, dass nur noch wenige Exemplare übrig sind. Es ist der Punkt, an dem sich die Aufgabe für diese Art stellt, ob sie mit den paar unterschiedlichen Gensätzen, die sie noch hat, auch in Zukunft überleben kann. Sprich: wirkt sich die kommende Inzucht verhängnisvoll aus oder nicht.
Populär wurde der Begriff, als die These aufkam, dass die Menschheit schon mindestens einen dieser Flaschenhälse passiert hätte (die These ist stimmig, denn der Genpool des Menschen ist im Vergleich zu verwandten Affenarten winzig; - zudem gelten die Geparde als klassisches Beispiel, dass auch “höhere“ Arten den Flaschenhals überleben können).
Doch ich hörte den Begriff in einem völlig anderem Zusammenhang: zwei Mädchen unterhielten sich über den neuen Freundeskreis eines Bekannten … stellt sich nur die Frage, wie das gemeint war. Positiv sicherlich nicht, aber biologietheoretisch stimmig wohl auch kaum …

Vielleicht täusche ich mich, aber irgendwie erscheint mir das nicht die Bildungsmisere widerzuspiegeln, von der immer gesprochen wird. Wenn ein Bildungspool wächst, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass alle alten Bildungsziele erhalten bleiben. Die Mehrheit der Menschen hat nämlich nur eine beschränkte Aufnahmekapazität und verweigert die Begriffe und Sprachwerkzeuge, die nicht oder nur selten gebraucht werden. Auch dafür gibt es Begriffe: ergonomisch (die Möbelindustrie versuchte es zu nutzen), effizient (wird gerne für wirtschaftliche Themen verwurstet) und energiesparend (wird meist mit Benzin in Verbindung gebracht).
Das wäre also der umgekehrte Effekt eines Flaschenhalses, eine eher mäandernde Bildung, die sich erst “ausmendeln“ muss, um auf die Inhalte zu kommen, die in der Gegenwart gebraucht werden.
Um zu prüfen, ob solche Entwicklungen schon früher stattgefunden haben, müsste eine Art “molekulare Uhr“ zu Hilfe genommen werden. Die molekulare Uhr, ein Fachbegriff, der sich leider noch nicht herumgesprochen hat, meint die Veränderungen (Mutationen in den Genen) über viele Generationen hinweg, die Aufschluss über die Verwandtschaft unterschiedlicher Arten gibt (oder besser: sie lässt den Zeitpunkt abschätzen, zu dem sich Arten von einem gemeinsamen Vorfahren trennten).
Sprachwissenschaftler sind da leider auf Vermutungen und Mutmaßungen angewiesen. Auch wenn jeder weiß, dass Deutsch und Englisch die gleichen Wurzeln haben, so lässt sich sehr schwer abschätzen, wann es eine Sprache war (da ist es mit Französisch, Spanisch und Italienisch viel leichter). Könnten hingegen Wörter wie die Moleküle in der molekularen Uhr gezählt werden …

Nun, es würde auch keine genaueren Ergebnisse bringen. Die molekulare Uhr geht nämlich nicht immer gleich schnell und so wäre es mit einer Wortuhr (diktionare Uhr?) sicherlich auch. Sind die Umstände gleichbleibend und günstig, so verändert sich kaum etwas. Aber wenn die Umstände schwierig werden, sich die Situationen ständig ändern und der Druck größer wird, dann läuft die Uhr im Trab.
Wie wäre es, wenn die molekulare Uhr trotzdem im Wortschatz aufgenommen würde? Ein Begriff, der die Relativität einer Zeitmessung genauso widerspiegelt, wie er die ständige Evolution im Kleinen beschreibt. Ein Begriff für eine Möglichkeit die Welt zu sehen – und somit ein Bildwort, das auch an anderen Stellen passen könnte.



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 IngeWrobel (28.01.10)
Interessante Überlegungen zum Thema Sprache - gerne gelesen!
Liebe Grüße!
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