KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Donnerstag, 09. April 2020, 16:57
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BRIEFE AN HERRN ANDRÉ ÜBER DIE LITERATUR 12

711. Kolumne

Lieber Fabian André,
Sie wachsen mir immer mehr ans Herz! Ihre Bemerkungen zur Literatur sprechen meine Zunge, auch wenn ich (trotz des Todes) der sinnenfrohen Welt weiterhin anhängen werde - nie allerdings an die Genusssucht gekettet. Aber das gönnen Sie sich sicherlich auch. Die Literatur, die Kunst, die Welt des Denkens (Philosophie und Politik) und die Erzeugung dessen, was uns eine Weile überlebt und andere erreicht und vielleicht antreibt - die sterbenden Hände, die andere sterbende Hände fassen und halten, dieser Anflug ewigen Lebens -, das ist das, was mich erfüllt, auch wenn mir klar ist, dass alles nur Zufälligkeiten der Evolution sind, allerhöchstens Scherze eines sich langweilenden Gottes, ungesehene Blüten ziemlich stabil wirkender Naturgesetze. Aber dieses Nichts ist alles, was ich habe. Es ist die Literatur (oder die Kunst in allen ihren Gattungen und Formen) die einzige wirksame Vernunft, die mir möglich ist. Abgesehen von meiner Lehrer-Tätigkeit, die mir auch sinnvoll erscheint, auch hier reichen sich die Sterbenden die Hände, abgesehen von meiner Zeit, in der ich eine Familie hatte... Nun hat alles im Leben seine Zeit. Die Familie. Der Beruf. Und das Darüberstehende - besondere Interessen. Zwar wirkt die Familie nach, man wird Großvater, und eines Tages wird der Enkel von mir etwas haben, ich werde für ihn da sein. Auch Sie werden in einigen Jahren sehr wahrscheinlich mit der neuen Rolle konfrontiert sein. Immer wieder ist man ein wenig und ein wenig mehr in der Rolle des Vaters oder Groß-Vaters. Eigenartig das alles. Der Beruf aber geht zu Ende. Das wird für mich wieder ein Verlust sein, nicht aber so schwer wie der Verlust meiner Frau. Lebens-Lauf, Lebens-Stücke mitten in einer großen Tragikomödie, das alles weht mich jetzt viel schärfer an als zuvor. Das Stück, das ich mir schreibe und in dem ich spiele, in dem ich mit freiem Willen an den Marionetten-Fäden hänge - das kommt mir ziemlich absurd vor. Jedenfalls jetzt in meiner schweren Lage. Was Sie von Ihrer Tochter schreiben, erfahre ich - anders - auch: Den Unterschied der Generationen. Sie deuten es mit Witz so: Das Leben inszeniert sich selbst. Die Triebe sind das Stück. Ja. Meine Frau war auch 22 damals. Aber ich habe die Literatur (die Kunst, die Musik...) nie verraten um der Triebe willen. Ich blieb immer ein ernster Typ. Deswegen brauch(t)e ich eine fröhliche Frau. ... Ich hatte ein wunderbares Familienleben und bis zuletzt eine sehr gute Ehe. Mit einem Mal bin ich verarmt, hat denn dieses Schicksal einen Sinn? Ich hoffe, dass Sie sich wohler fühlen als ich (oder werde ich am Ende wie Sie: Dass ich mein Alleinsein annehme, von Freundinnen ab und an ein wenig getröstet?). Die jungen Leute sind anders als ihre Eltern. Mein Sohn ist viel konservativer als ich - sehr höflich, sehr förmlich, er will die Welt wie sie ist, immerhin liest er viel: Zauberberg, Homo Faber, Der Prozess, Joseph und seine Brüder (!), jetzt Stiller... Und doch denken wir so anders von der Welt. Ich bin schwerer. Aber dafür tanze ich, wenn ich tanze, viel wilder und schöner... Ich liebte immer das Schweben, die Leichtigkeit im Leben, das Tanzen am Rand des Kraters. Ich hoffe, ich kehre dorthin zurück. Ich brauche es auch zum Schreiben. Die Literatur - sie hat ja zum Glück einen starken Hang zur Kommunikation, die Korrespondenz wohnt sozusagen in der Literatur, auch die ungeschriebenen Briefe, die ungesagten Gespräche. Ich habe das große Glück, recht einige Menschen zu kennen, mit denen ich in einem dichten Dialog stehe.
In der neuesten Ausgabe der Termine von Forum Literatur steht die richtige Uhrzeit (18.30 Uhr für den 8.7.2005), in einer älteren Fassung stand tatsächlich "ab 10.30 Uhr". Ich bin nun beruhigt und ich freue mich auf den Sommertermin im Vestibül des Riesenbaus sehr! Ich werde das Bild, das ich aus meinen Augenwinkeln erfuhr, nicht mehr los: wie Sie im Seitenzimmer bei der letzten Lesung saßen und sahen und hörten - wie ein väterlicher Erzeuger und zugleich eine sorgende Mutter auf ihre Kinder sieht: Lebende Texte! Das ist ein schönes Bild in meinem Gedächtnis. Mit Holger Benkel werde ich heute Abend telefonieren. Ich hoffe ja tatsächlich ihn nach Bonn zu bewegen, im Frühling oder Sommer. Die 10 Seiten können Sie bestimmt noch kürzen. Das können Sie gegen ihn durchsetzen. Ich stehe hinter Ihnen. Alle Überausführlichkeit kann weg, alle Exkurse sind zu streichen. Das nimmt er dann schon hin. Ich werde in der nächsten Zeit, wenn ich wirklich zum Lesen komme, Texte von Inhagen lesen, da Sie ihn schätzen (und er mich auch, was ihn ehrt, und mich auch, wenn er ganz gut schreibt). Herzlichst: Ihr Damonte

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