KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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De arte legendi
871. Kolumne
DE ARTE LEGENDI
1. Ich beschreibe hier meine momentane Lese-Phase, die wieder anschließt an die intensivsten meines bisherigen, schon recht langen Lebens, und zwar an die Zeit, als ich 11-14 und 22-25 Jahre alt war. Jedesmal waren die Auswahl-Motive anders. Jetzt bin ich frei von allen äußeren Vorgaben, so wie in meiner Kindheit; auch während meines Studiums fühlte ich mich noch mehr als halbfrei, die obligatorische Lektüre las ich wie nebenbei, übrigens gern. In der langen Berufszeit las ich mal mehr, mal weniger freiwillig gern. Es kamen nicht nur zeitraubende Pflichtaufgaben hinzu, sondern auch neue Interessen (Kunst/Ausstellungen, Theater - ich war bis heute etwa 600 Mal im Theater und inszenierte mit Schülern 20 Stücke), schließlich fing ich im Alter von 43 an, ernsthafter zu schreiben.
2. Ich hole Lektüren nach, zu denen ich bisher nicht kam (oft aus Gründen der Länge), z. B. Th. Manns JOSEPH. Es gibt angefangene Bücher, die ich jetzt zu Ende lese, z. B. ULYSSES von Joyce. Dieser Nachholbereich ist groß.
3. Ich erweitere den eben genannten Bereich um weitere Bücher, die ich nie lesen wollte, jedenfalls nicht als Ganzes, z. B. ANTON REISER oder WILHELM MEISTER.
4. Die gegenwärtigen Veröffentlichungen des main streams meide ich meist nach wie vor - aber ich lasse mich hin und wieder anregen von meiner Frau, die sich hervorragend in dieser Gegenwartsszene (deutsche und andere Literatur) auskennt, z. B. KRUSO von Lutz Seiler.
5. Auf John Williams - eine für mich wunderbare Entdeckung - kam ich erst nach drei Motivationsstößen: Meine Frau las STONER mit großem Interesse und erzählte davon (und das genügte mir, dachte ich); ich las (bedingt durch einen Fund im offenen Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee) den Briefwechsel des jüngeren Plinius mit Kaiser Trajan - ich liebe die lateinische Sprache, die römische Geschichte und Kultur, schon in der Schulzeit, und ich kann Latein bis heute recht ordentlich. Über weitere Plinius-Briefe und die Briefe Ciceros (den ich im Geschichtsstudium mit seiner Schrift DE RE PUBLICA näher kennengelernt hatte, war ich gut vorbereitet, als beim Sommerfest unseres Hauses der Mitbewohner C. E. mich auf AUGUSTUS von John Williams aufmerksam machte; mein Interesse war geweckt. Als ich dann hörte, dass Williams ein total übersehener Autor der Hemingway-Zeit gewesen sein soll und ich das Augustus-Buch zufällig im Bücherkarren an meinem geliebten Kaiserplatz fand, war alles reif, das Buch und ich, und ich pflückte das Buch, nach dem ich nicht fischen musste, aus dem Regal und bekam's für 5 Euro. Hardcover! Und las es, und jubelte beim Lesen, so interessant war die nicht-chronologische Darstellung vom Aufstieg und von den persönlichen Sorgen des mächtigen Kaisers, und so grandios übersetzt war das Buch! Ich las danach noch STONER (beglückend!) und BUTCHER'S CROSSING (dito!).
6. Heute fand ich VON MÄUSEN UND MENSCHEN im Bücherschrank an der Poppelsdorfer Allee, und es kommt auch auf meine Leseliste. Ich sah in meiner Jugend eine s/w-Verfilmung, die mich umriss.
7. Systematisch gehe ich also nicht vor. Mir ist ohnehin bewusst, dass ich nur einen Teil der Weltliteratur werde schaffen können. Es gibt auch inhaltliche Genres, die ich so gut wie abgeschlossen habe, Dystopien und SF-Literatur. Manches große Buch kenne ich als Verfilmung oder in Bühnenfassung, da muss schon ein starkes Motiv da sein, wenn ich dann die Originalvorlage noch lesen will. Ich ziehe die Belletristik der Lyrik vor, aber ich habe verdammt viel Lyrik gelesen, wenn auch nicht im Ansatz so viel wie der für seine Lektüre-Berichte berühmt gewordene Theo Breuer. Immer wieder kaufe ich mir Lyrikbände - Bobrowski kannte ich kaum, fand vier Erstausgaben im Bücherschrank; oder mir unbekannte Gedichtbände von Celan; Jan Wagner, HEL, Holger Benkel, Wolfgang Kubin, Nico Bleutge, ... Kürzlich entdeckte ich im Bücherschrank die ersten 10 Gedichte von Thomas Kling auf einem Faltblatt, und dann wollte ich mehr von ihm lesen ... Dramen las und lese ich gern, zuletzt ELEKTRA von Hofmannsthal oder MEDEA von Hans Henny Jahnn (sprachlich und in der inhaltlichen Akzentuierung großartig!). - Man muss nicht systematisch lesen, systematisieren kann man immer mal zwischendurch im vergewissernden Rückblick.